Alles - worum es geht (German Edition)
kann nicht mehr schlafen. Obwohl ich mitten in den Nachrichten abgeschaltet habe, muss ich immer an diese Sache mit den Sklaven denken. Sie will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Was ich nicht verstehe: Wo ist der Unterschied, ob ich eine Arbeit mache, die mir nicht gefällt, vielleicht auch für jemanden, den ich nicht mag, oder ob ich der Sklave von jemandem bin? Hängt es mit der Art der Arbeit zusammen? Mit der Bezahlung? Der Arbeitszeit? Ich bin mir nicht sicher. Die Zeit kann es eigentlich nicht sein. Sieh nur, wie viel meine Mutter arbeitet, und sie ist keine Sklavin! Ich habe mit Kevin darüber geredet, deshalb ist es auch so spät geworden, aber er hatte überhaupt keine Antwort darauf, er fand es bloß idiotisch, sich über so was Gedanken zu machen, vor allem, wenn Mädchen in der Nähe waren. So viele waren es gar nicht, aber vielleicht hatte Kevin trotzdem recht.
Ich frage nicht meinen Vater, sondern meinen anderen Freund. Ahmed geht in meine Klasse, und er kennt sich mit solchen Sachen aus.
»Ein Sklave hat keine Wahl«, sagt er.
Darüber denke ich lange nach. Auch Kinder haben selten die freie Wahl, trotzdem sind sie keine Sklaven. Das heißt, manche schon, wenn man den Nachrichten glauben kann. Aber die allermeisten nicht. Trotzdem können Eltern, Lehrer und andere Erwachsene über Kinder bestimmen, auch wenn die keine Sklaven sind. Der Gedanke macht mir Kopfschmerzen, denn ich komme zu keinem Schluss. Also denke ich an etwas anderes, daran, dass Sklaven die Freiheit haben zu denken, was sie wollen, womit ich wieder am Anfang bin, und darüber vergesse ich fast, das zu bemerken, worauf ich seit vielen Monaten sorgfältig geachtet habe.
Meist ist es dienstags, aber manchmal auch an anderen Tagen. Heute ist Montag. Meine Geschwister merken nichts, und ich habe ihnen nichts davon gesagt. Im Großen und Ganzen interessieren sie sich nur füreinander, die Schule, ihre Flötenstunden und sowas, und das ist auch am besten. Sie sind wie ein altes Ehepaar, nur eben in Klein. Heute zum Beispiel kriegen sie nicht mit, wie unser Vater dreiundvierzig Minuten zu spät nach Hause kommt.
Jeder kann kommen und gehen, wie er will. Das hier ist ein freies Land. Vater ist doch kein Sklave!
Es ist nur so, dass er sonst immer zur gleichen Zeit nach Hause kommt, es sei denn, er muss auf dem Weg noch einkaufen, aber da ich es seit einigen Monaten übernommen habe, die Einkäufe auf dem Heimweg von der Schule zu erledigen, gibt es keinen Grund mehr, wieso er zu spät sein könnte.
Nur wie viel er zu spät kommt, das ist immer anders. Mal ist er dreiundvierzig, mal achtundvierzig, mal vierundfünfzig Minuten zu spät, auch schon mal ganze anderthalb Stunden, ein anderes Mal hingegen nur fünfunddreißig Minuten. Zu spät gemessen woran? Wir haben eine Absprache, dass ich auf die Zwillinge aufpasse, bis er nach Hause kommt. Er hat um vier Uhr frei und kann ziemlich genau eine Viertelstunde später zu Hause sein. Er fährt immer mit dem Rad. Aber jetzt gerade habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ich will die Nachrichten sehen. Es geht um eine Ölpest, um die Finanzkrise und um Menschen, die ihre Häuser verlieren. Und wieder einmal um Sklaven. Um Kinder, die aus Nachbarländern entführt und über die Grenze zur Elfenbeinküste verschleppt werden, wo sie auf Schokoladenplantagen arbeiten sollen. Bloß damit wir hier billig Schokolade kaufen können. In vielen Ländern sind die Menschen so arm, dass Onkel, Cousins, Brüder, ja sogar Eltern Kinder an Sklavenhändler verkaufen. Jetzt schreit mein Bruder Ivan, und ich gehe nachschauen. Meine Schwester Irene zieht ihn an den Haaren. Als ich zurückkomme zum Fernseher, ist der Sprecher schon beim nächsten Thema, anschließend kommt Werbung für Shampoo und für teure Schokolade mit dem Geschmack von grünem Tee. Gerade will ich vors Haus gehen und nach meinem Vater Ausschau halten, da sehe ich durchs Küchenfenster seine rote Jacke, höre erst das Quietschen der Fahrradbremse und gleich darauf den Schlüssel in der Tür. Ich gehe hinaus auf den Flur. Betrachte meinen Vater prüfend, während er seine rote Windjacke aufhängt, und ob es nun an mir liegt oder ob irgendetwas mit seinen Augen ist, jedenfalls kommen sie mir größer vor als normal und gleichzeitig irgendwie abwesend, nein, jetzt übertreibe ich, ich habe zu viel ferngesehen.
Er lacht, und wir machen zusammen Essen.
Ausnahmsweise helfe ich, das heißt, eigentlich habe ich das in letzter Zeit immer
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