Alles - worum es geht (German Edition)
gleich anfängt zu heulen. Trotzdem habe ich für Ivan ein weiches Herz, vielleicht weil er so etwas Zartes an sich hat und man besonders gut auf ihn aufpassen muss. Ich überlege, ob die kleinen Japanerinnen eher wie Ivan sind oder wie Irene, oder vielleicht von jedem etwas haben. Ich hoffe, sie haben einen großen Bruder, der ein weiches Herz für sie hat und auf sie aufpasst. Aber wir sehen nie jemanden.
Nach ein paar Wochen meint Louisa, wir sollten es der Polizei melden. Kevin ist derselben Meinung, aber Ahmed und ich finden die Idee schlecht. Vielleicht sind es ja wirklich illegale Einwanderer, die dann unseretwegen ausgewiesen werden. Oder sie sind krank und dürfen eigentlich nicht aus dem Haus und werden dann plötzlich dazu gezwungen. Nein, nach vielem Hin- und Herüberlegen sind wir uns einig, dass wir das Haus einfach weiter beobachten.
Erst da entdecken wir den schmalen Weg. Normalerweise sind wir nie am späteren Abend noch da, aber Louisa erzählt uns, dass sie auf dem Heimweg von Kevin an dem Haus mit dem mattgelben Licht vorbeigekommen ist und einen Schrecken bekommen hat, weil plötzlich ein Mann aus der Hecke auftauchte, gleich an der Ecke der Jackson Hill. Er hat ihr nichts getan, hat bloß die Mütze tiefer ins Gesicht gezogen und ist mit schnellen Schritten auf dem Gehweg zur Straße hochgegangen. Louisa, die vor Schreck so heftig gebremst hat, dass sie fast vom Rad gefallen wäre, hat auf die Weise gemerkt, dass es hinter den Häusern, zwischen der Hecke und dem Zaun, einen Weg gibt, auf dem der Mann gekommen war. Da wurde uns klar, wie blöd wir gewesen waren: Wir hatten immer nur den Haupteingang im Auge behalten, aber in all den Stunden, in denen wir vor dem Haus skateten, konnten die Leute zum Hintereingang rein- und rausgehen, ohne dass wir irgendwas davon mitgekriegt hätten.
Möglichst unauffällig ziehen wir nun auf die andere Seite um, und es dauert gar nicht lange, da kommt auch schon ein Mann heraus, und kurz danach geht einer ins Haus, und ein dritter geht weg.
Männer, die kommen und gehen.
Wie bescheuert wir gewesen waren! Jetzt reden wir darüber, dass die japanischen Mädchen sehr krank sein müssen, weil sie so viele Ärzte brauchen, oder vielleicht gibt es auch große Probleme mit dem Asylantrag der Familie, und all diese Männer sind Anwälte. Jeder von uns denkt etwas anderes.
Wir haben keine einzige gute Idee, aber wir sind uns einig, dass wir die Japanerinnen retten müssen, und zwar bald. Selbst wenn das bedeutet, dass wir zur Polizei gehen müssen.
Wir hatten so viel zu tun wegen der erloschenen Sonnen, dass ich eine Zeit lang nur noch selten die Nachrichten sah und auch nicht mehr so genau auf meinen Vater achtete. Erst als es schon halb fünf war und er immer noch nicht zu Hause war, fiel mir ein, dass Dienstag war. Ich hätte mich also nicht für fünf Uhr mit Ahmed, Kevin und Louisa verabreden dürfen. Ivan und Irene sitzen mit Papier, Farben, Schere und Kleber am Küchentisch und basteln Weihnachtsschmuck. Ich gehe zwischen Tisch und Fenster auf und ab und überlege, was ich tun soll.
Es ist Anfang Dezember, und draußen wird es schon dunkel. Ich könnte die anderen anrufen und sagen, dass ich nicht kommen kann oder erst später. Aber ausgerechnet heute wollten wir uns etwas überlegen, wie wir die Japanerinnen retten könnten, außerdem will ich mir mit den anderen den Weg näher ansehen, bevor es ganz dunkel wird. Deshalb habe ich keine Zeit, auf meinen Vater zu warten. Es ist auch lange her, seit ich das Haus entdeckt und ganz alleine beobachtet habe, und ich verspüre den merkwürdigen Drang, vor den anderen da zu sein und mich auf eigene Faust ein bisschen umzusehen. Ich schaue noch einmal nach Ivan und Irene, sage, dass ich wegmuss, dass unser Vater aber gleich kommen wird, und wenn etwas ist, sollen sie mich auf dem Handy anrufen oder zu den Nachbarn gehen. Dann setze ich mich aufs Rad und flitze hinunter zu dem roten Backsteinhaus.
Ich habe so ein eigenartiges Ziehen im Kreuz, das ich nicht erklären kann. So als hätte ich furchtbar viel zu tun, auch wenn ich gar nicht weiß, womit eigentlich. Vielleicht stimmt irgendwas nicht bei den Japanerinnen, denke ich, und wir sollten uns beeilen, sie da herauszubekommen. Vielleicht ist es so bei erloschenen Sonnen, denke ich, dass man sie innerhalb einer bestimmten Zeit wieder anzünden muss, denn wenn man das nicht macht, ist alles zu spät? Ungefähr so, wie wenn ich bei unserer Schultheateraufführung
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