Alles - worum es geht (German Edition)
Ganze.
Wir grölen herum, lassen unsere Boards und die Rollen hart aufkommen, wenn wir landen, rufen laut den Namen des anderen, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, falls bei den Japanern jemand zu Hause sein sollte. Aber niemand kommt ans Fenster, obwohl schon die Nachbarn zu beiden Seiten rüberschauen. Lange Zeit machen wir so viel Krach und probieren so viele Tricks aus, dass wir die japanischen Mädchen ganz vergessen und gar nicht mehr nach ihnen gucken. Es ist lange her, seit wir zuletzt Penny Board gefahren sind, und ich habe ganz vergessen, wie viel Spaß das macht. Dann auf einmal sehe ich sie, erst die eine, dann die andere.
Das passiert genau in dem Augenblick, als ich falle und mir richtig wehtue bei dem Versuch, nach einem Sprung eine dreifache Schraube zu machen, was mindestens eine zu viel war. Ich liege mit blutenden Ellbogen am Boden und sehe erst ein bleiches Gesicht mit schmalen Schlitzen als Augen, und dann ein zweites, ganz ähnliches, nur etwas kleiner und etwas runder.
»Erloschene Sonnen«, sage ich zu Kevin, aber ich flüstere nur und er kann mich nicht hören, mit dem Finger zeigen will ich aber auch nicht, also starre ich nur zum Fenster hinüber, bis Kevin meinem Blick folgt.
»Wahnsinn!«, sagt er nur.
Die Mädchen hinter der Scheibe lachen, zeigen auf mich, gestikulieren, und zeigen wieder auf mich. Dann muss sie wohl jemand gehört und vom Fenster vertrieben haben, die Gardine fällt zurück an ihren Platz, und obwohl wir noch eine halbe Stunde lang herumfahren, sehen wir die beiden nicht wieder.
Die Ellbogen bluten und tun mir weh, aber das macht nichts.
»Wenn das Nachkommen von Kriegsgefangenen sind, findest du es okay, sie über Generationen hinweg einzusperren?«, fragt Kevin. »Vielleicht übertragen ja solche, die mehrmals lebenslänglich gekriegt haben, die Strafe auf ihre Kinder.«
»Das sind doch keine Tiere im Zoo«, sage ich.
»Nein, aber vielleicht sind sie krank und sehen deshalb so bleich aus und müssen immer im Haus bleiben?«
Ich muss an meine Mutter denken, aber das will ich nicht, also sage ich schnell: »Oder es sind illegale Einwanderer, und die Kinder dürfen erst raus, wenn die Familie richtige Papiere hat?«
Uns wird klar, dass wir Ahmed einschalten müssen, denn auch wenn er nicht skatet und ganz allgemein mit Sport nichts am Hut hat, so weiß er doch lauter Sachen, die sonst niemand weiß. Außerdem ist er der einzige Flüchtling, den wir kennen.
An meine Mutter denke ich nicht: Wenn man zwar gezwungen ist, eingesperrt zu leben, aber nicht gezwungen zu arbeiten, dann ist man kein Sklave.
Ein paar Tage später sind wir zurück, aber wir sehen nichts von den Japanerinnen. Auch nicht, als wir das nächste Mal kommen. Erst beim dritten Mal sehen wir sie. Dieses Mal ist Kevin derjenige, der hinfällt und über den sie lachen müssen. Nicht so laut wie beim ersten Mal, es ist mehr so ein eingeschlossenes Lachen, so als gäbe es nicht so viel davon, dass man alles auf einmal herauslassen dürfte. Oder auch so, als dürfte niemand sie hören. Auf jeden Fall ist es da, und deshalb sind wir uns einig, dass die beiden noch ziemlich klein sein müssen. Sonst fänden sie es ja wohl nicht so lustig, uns hinfallen zu sehen. Da wir sonst keine Japaner kennen, können wir uns nicht sicher sein, aber ich vermute mal, dass sie nicht älter sind als Irene und Ivan. Also zehn. Zumindest die Jüngere nicht.
Ahmed sagt, er schaut mal nach Fotos von anderen japanischen Kindern, dann können wir vergleichen. Außerdem sagt er, dass Japaner in den USA nicht als Flüchtlinge gelten. Nicht heutzutage. Wenn sie nicht Nachkommen von Kriegsgefangenen sind, müssen sie also aus einem anderen Land kommen. Ich weiß, dass er recht hat, Ahmed hat immer recht, aber wir bleiben trotzdem dabei und nennen sie weiter die Japanerinnen.
Wir hatten beschlossen, niemandem sonst von der Sache zu erzählen, aber Kevin redet trotzdem mit Louisa über die erloschenen Sonnen, und nun will sie natürlich auch mitmachen. Ich bin stinksauer auf Kevin, aber er ist mein bester Freund, deshalb kann ich nichts dagegen machen. Von da an fahren wir zu dritt Skateboard, und ob ich will oder nicht, muss ich zugeben, dass Louisa in Ordnung ist. Für ein Mädchen. Sie kann fast so hoch springen wie wir und heult nicht, wenn sie hinfällt, egal, wie weh sie sich tut.
Ich muss an meine kleinen Geschwister denken, an Irene, die auch ein bisschen so ist wie Louisa, und an Ivan, der wegen jedem Mist
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