Alles - worum es geht (German Edition)
erloschenen Sonnen an einem fremden Ort werden. Nein, ich werde auf uns aufpassen, so wie ich es meiner Mutter versprochen habe an dem Tag, an dem sie klarer war als an anderen Tagen.
Ich möchte Ahmed und Kevin und Louisa nie wiedersehen. Ich möchte auch meinem Vater nie mehr in die Augen sehen. Erklären kann ich das nicht, ich weiß bloß, ich will seine Augen nicht mehr sehen. Ich muss wieder an diese Sendung auf CNN über Sklaven denken, an all das, was man machen kann. Aber auch an meinen Vater, der ins Gefängnis kommt, an das, was die Leute über ihn und uns denken und reden werden, und an meine Mutter und ihre Geschwister und das, was aus ihnen geworden ist. Die Gedanken kreisen in meinem Kopf, und die Stimme wird immer lauter, die sagt, dass ich nur eine Möglichkeit habe. Die ganze Zeit höre ich auch das Lachen der erloschenen Sonnen, das ich nie gehört habe, dieses eingeschlossene Lachen, als ich mit dem Skateboard gestürzt bin. Ganz anders als Ivan und Irene. Und so fasse ich meinen Entschluss.
Im Laufe der Nacht plane ich alles und schreibe mir eine lange Liste.
Flugtickets im Internet zu kaufen geht ganz einfach. Ich bezahle mit der Kreditkarte meiner Mutter, die ich sowieso schon lange zum Einkaufen benutze. Mitten in der Nacht schleiche ich mich vorsichtig aus dem Haus, radle zur Bank und hebe tausend Dollar ab, den Höchstbetrag. Erst hatte ich erwogen, die Karte mitzunehmen, aber dann könnten sie leicht feststellen, wo wir sind, und das kann ich nicht riskieren. Mit den tausend Dollar und dem, was wir zusammen in unseren Spardosen haben, müssen wir auskommen.
Da ich derjenige bin, der bei uns Ordnung hält, ist es auch kein Problem, unsere Pässe zu finden. Auch das Schreiben, laut dem uns erlaubt war, als unbegleitete Minderjährige zu reisen, als wir Tante Marion besucht haben, liegt noch in der Reisemappe. Ich muss bloß das Datum ändern, dann kann uns keiner aufhalten. Tante Marion bestätigt darin, dass wir sie besuchen, und mein Vater hat unterschrieben, dass er uns diese Reise erlaubt. Keiner kann wissen, dass wir Tante Marion besucht haben, weil sie Krebs hatte und jetzt schon über ein Jahr tot ist.
Als mein Vater am nächsten Morgen um halb sieben, bevor er zur Arbeit ging, den Kopf zur Tür hereinstreckte, um mich wie gewöhnlich zu wecken, sage ich ihm, ich hätte noch immer zu starke Kopfschmerzen, um zur Schule zu gehen, aber ich würde Ivan und Irene zu ihrer Schule bringen. Sobald er das Haus verlassen hat, stehe ich auf. Ich mache Frühstück, und als alles fertig ist, rufe ich von meinem Handy aus bei uns an. Nach einer Weile gehe ich nach oben und rufe meine Geschwister, die wie erwartet beide schon wach sind.
»Papa hat eben angerufen«, sage ich. »Er muss für seine Firma nach Mexiko, und wir sollen ganz schnell dahin fliegen und schon mal alles vorbereiten, bis er kommt.«
»Juchhu!«, rufen beide, und auf einmal ist es kein Problem, ihre Koffer zu packen und sie dazu zu bekommen, sich anzuziehen.
Eine Antwort auf ihre Frage habe ich auch schon parat:
»Wir fliegen schon vor, so wie damals, als wir Tante Marion besucht haben. Papa kommt in ein paar Tagen nach.«
Solange Ahmed, Kevin und Louisa glauben, dass ich krank bin, werden sie wegen der kleinen Japanerinnen nichts weiter unternehmen, da bin ich mir sehr sicher. Ich habe ihnen noch in der Nacht eine SMS geschickt und von meinen Kopfschmerzen berichtet, und bevor sie begreifen, dass ich nicht mehr komme, sind wir weit weg.
Auch wenn ich den Anruf mache, werde ich weit weg sein.
Aber zuerst einmal habe ich genug damit zu tun, Kleider und Schuhe für uns einzupacken. Niemand darf mir Ivan und Irene wegnehmen, sie zu erloschenen Sonnen machen! Auch wenn ich locker auf uns drei aufpassen könnte, weil ich das sowieso schon die ganze Zeit tue, ist mir das nach dem Gesetz nicht erlaubt. Das weiß ich aus den Nachrichten, und von Ahmed auch.
Es ist noch nicht zehn, da stehen unsere drei kleinen Koffer schon fertig gepackt im Flur, und ich bestelle uns ein Taxi. Das ist zwar teurer, als mit dem Bus zu fahren, aber ich will nicht riskieren, Nachbarn zu treffen oder irgendwelche anderen Leute, die Fragen stellen könnten.
Als das Taxi losfährt, kann ich plötzlich nichts mehr sagen. Ich sitze bloß da und lege die Arme um die Zwillinge, die munter drauflosplappern. Wir werden nie mehr zurückkommen, das weiß ich. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht alle drei volljährig sind. Dann kann niemand mehr über uns
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