Alles - worum es geht (German Edition)
aufgewachsen. Vielleicht liegt es auch in den Genen. Ich meine, vielleicht muss es ja so sein, wenn man unten am Bahndamm zur Welt kommt. Die sind ein bisschen dümmer als wir anderen. Sonst würden die doch wohl nicht so gehen? Das hab ich neulich zu meinem Nachbarn gesagt. Wie der gelacht hat! Und genickt. Da hab ich es an die Zeitung geschrieben. Nicht ganz so, mit etwas anderen Worten, aber ich hab es gemacht. Einer muss ja die Wahrheit sagen. Sonst stecken die uns noch an mit ihren Schweinereien. So wie die gehen, mit diesen wiegenden Hüften und mit gesenktem Kopf. Völlig inakzeptabel. Schauen zu Boden, als hätten sie etwas zu verbergen. Haben sie bestimmt auch. Das habe ich geschrieben. Die unten am Bahndamm, die haben was zu verbergen. Was, das sollen wir anderen nicht wissen. Etwas Anständiges kann das nicht sein. So was verbirgt ja niemand. Man sollte ihnen die Kinder wegnehmen. Das tut keinem gut, so heranzuwachsen. Wenn man ihre Kinder auf unserer Seite aufwachsen ließe, würden sie bestimmt so gehen wie wir. Das wäre bald kein Problem mehr. Aber was, wenn ihnen das im Blut liegt, das mit den Hüften? Und dem gesenkten Kopf? Dann würden unsere Nachkommen bald auch so gehen. Wo kämen wir da hin? Nein, das wäre nicht gut. Ich hab das der Zeitung vorgeschlagen, aber ich zieh das besser zurück.
Man sollte einen Zaun errichten, ja, genau. Einen, über den keiner drüberklettern und durch den keiner durchsehen kann. Dann können sie so rumlaufen, solange sie wollen, mit diesem wiegenden Gang und dem gesenkten Kopf. Den Blick zu Boden! Das werde ich schreiben. Das schadet doch keinem, trennt bloß die Hasen von den Kaninchen, und so etwas muss nun mal sein. Das hab ich neulich geschrieben, das mit dem Zaun. Aber inzwischen hab ich darüber nachgedacht, und nun meine ich, dass man das eigentlich nicht machen kann. Nicht, das zu schreiben, das ist in Ordnung, aber einen Zaun errichten und die unten am Bahndamm sich selbst überlassen. Schuldet man denen nicht, als Christ oder wie auch immer, jedenfalls um der Mitmenschlichkeit willen, schuldet man ihnen da nicht, sie zu zivilisierten Menschen zu machen, wie wir es sind? Es ist nur eine Frage des Bildungszugangs, ob man mit wiegenden Hüften und gesenktem Kopf leben muss. Den Blick zu Boden gerichtet. Wie die Tiere. Das ist es. Das ist unsere Nation. Das alles, auch die andere Seite des Bahndamms. Wer weiß, der eine oder andere könnte doch heimlich über den Zaun klettern. Zuallererst muss man alles tun, um ihnen beizubringen, sich wie anständige Menschen zu benehmen. So wie wir. Sieh nur, mit welcher Freude wir aufrecht gehen, mit erhobenem Kopf und die Augen geradeaus. Unübersehbar, dass wir nichts haben, was wir verbergen oder wofür wir uns schämen müssten. Das schreibe ich an die Zeitung. Dass es ein Menschenrecht ist, aufrecht zu gehen mit erhobenem Kopf und den Augen geradeaus.
Das half. Nicht so, dass die unten am Bahndamm aufgehört hätten, mit wiegenden Hüften und gesenktem Kopf zu gehen, aber es zu schreiben. Es gedruckt zu sehen. Ich hab das Meine getan für den Anstand, die Nation. Andere sind der gleichen Meinung. Das ist sehr ermutigend. So als käme etwas in Gang. Wir stehen zusammen. Auf dieser Seite des Bahndammes. Bereit, die vom Bahndamm unten auf unser Niveau hochzuziehen. Man könnte sie auch dem Erdboden gleichmachen, die Gegend unten am Bahndamm. Damit wäre das Problem ein für alle Mal gelöst. Die Bewohner schicken wir auf eine Insel, wo sie trainieren können, aufrecht und mit erhobenem Kopf zu gehen, die Augen geradeaus. Die es lernen, können die Erlaubnis erhalten, herzukommen, unter uns zu leben. Inseln gibt es genug. Vielleicht, vielleicht sollten die Zurückkommenden einen besonderen Hut tragen, eine farbige Schirmmütze. Vielleicht orangefarben. Damit man sich nicht unwissentlich mit ihnen mischt. Zu wissen, mit wem man es zu tun hat, ist ja wohl ein Menschenrecht. Das alles habe ich nicht geschrieben. Noch nicht. Das dachte ich, als ich in der Zeitung die Antwort von dem da unten am Bahndamm sah. Der hat geschrieben, dass keiner ein besserer Mensch sei als andere und dass keine Art zu gehen richtiger sei als andere. Das stand da! Dass sie dort unten am Bahndamm, auch wenn es für uns von oberhalb des Bahndamms vielleicht fremd klinge, gern auf ihre Art gingen. Es gebe unendlich viel zu sehen, wenn sie beim Gehen zu Boden blickten. So etwas müssen wir uns anhören! Danach kam mir die Idee, die Gegend dem
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