Alles - worum es geht (German Edition)
ja, das sind nur Wörter. Wir können immer wieder andere finden, wenn das nötig werden sollte. Was durchaus sein kann. Sieh nur die drüben aus dem Westen. Die sagen inzwischen, wir im östlichen Teil der Nation, wir seien Unruhestifter. Dass der Konflikt mit denen unten am Bahndamm nie so weit gekommen wäre ohne uns aus dem Osten. Nur weil wir mit so hohem, lang gezogenem A sprechen, würden wir glauben, wir seien besser als andere. Wüssten es besser. Sie sagen, dieses lang gezogene A, das müsste verboten werden. Als wenn ich mit einem lang gezogenen A sprechen würde. Nur weil ich hier drüben im östlichen Teil geboren wurde und aufgewachsen bin. Ein A ist doch wohl ein A? Hören Sie doch: A. Das mag ja ein winziges bisschen lang gezogen sein. Eigentlich recht hübsch. Wir sind mit unserem A sehr zufrieden. Das schrieb ich an die Zeitung. Nachdem ich das mit dem Nachbarn gecheckt hatte und wir uns in der Sache einig waren. Dass so ein lang gezogenes A unendlich freundlich klingen kann. Fast schon wie ein ganzes Gespräch. Was? Jetzt schreiben sie in Artikeln drauflos, man solle die Sprache reinigen. Die Unruhestifter stoppen! Und das dürfen die ungestraft sagen. Ich wage mich nicht mehr vor die Tür. Aber die Polizei sagt, sie könne nicht eingreifen. Im Rahmen des Gesetzes habe jeder das Recht, sich zu äußern, wie er will. Und die Aufforderung Stoppt die Unruhestifter könne man nicht als Drohung gegen jemanden verstehen. Sie behaupten es immer weiter, egal, wie oft ich ihnen erklärt habe, ich wüsste, das sei gegen mich und alle anderen hier im östlichen Teil gerichtet. Gegen unser lang gezogenes A. Stoppt die Unruhestifter! Als wüsste ich nicht genau, worauf das hinausläuft. Nur weil die mit ihrem abgebrochenen, flachen A in der Überzahl sind.
Reinigt die Sprache!
Wo kämen wir denn hin, wenn alle ungestraft herumlaufen und so was sagen könnten?
Der türkische Teppich
»Der da!«
Mein Vater zeigt auf den Teppich, den der Händler zuletzt hereingetragen hat.
Ich hocke mich davor, streiche behutsam über die Kante. Ganz glatt fühlt sich der Teppich an und erstaunlich weich, als würde man in warmes Wasser tauchen. Er ist blau und golden mit einer schmalen dunklen Kante, ein kompliziertes Muster rankt sich um Abbildungen von Straußen, Kamelen, Schlangen und seltsamen Fantasietieren in Rot, Orange und einem hellen Grünbraun. Einige der Tiere und ein Teil des Musters haben einen Rand in demselben Kaffeebraun wie die Teppichkante, andere liegen direkt in dem Blau und Gold, so als wären die Farben kopfüber in den Teppichflor gesprungen und zu seltsamen Geschöpfen verschmolzen.
»Wollen kaufen?«, fragt der Händler in gebrochenem Englisch. »Billiger Preis … Ware sehr gut …«
Er ist ein kleiner, magerer Mann mit dunklem, wettergegerbtem Gesicht. Schmal und voller Falten ist es, mit einer krummen Nase, die aussieht, als wäre sie irgendwann gebrochen und nie gerichtet worden. Auch die Arme des Mannes sind schmal und knorrig, so wie die dünnsten Äste eines Apfelbaums. Aber die Teppiche trägt er, als hätten sie kein Gewicht, und seine Füße bewegen sich so leicht, dass es wie ein fremdartiges Ballett aussieht. Seine Augen sind dunkelbraun und sehr freundlich, doch diese Freundlichkeit ist wie ein merkwürdiger Stolz. Als hätte er seine Ehre in die Freundlichkeit gelegt und trüge sie zwischen den Schultern, die er ganz gerade hält. Und das, obwohl mein Vater derjenige mit dem Geld ist.
»Ja, der ist der schönste«, sagt mein Vater und nickt dem Händler zu. »Stimmt’s, Inga?«
Ich schaue vom Händler zu meinem Vater und spüre, wie mir eine juckende Röte ins Gesicht steigt, und ich würde gern schnell Ja sagen. Wir brauchen keinen Teppich, würde meine Mutter sofort einwenden. Im Grunde genommen gibt es sowieso nicht viel, was wir brauchen, wir haben schon alles. Meine Eltern sehen das nicht so, aber meine Mutter will das Geld lieber für Urlaubsreisen in ferne Länder ausgeben oder für den Umbau unserer Küche als für türkische Teppiche oder anderen Kram. Deshalb hat mein Vater ihr auch versprechen müssen, heute nichts zu kaufen.
»Stimmt’s, Inga?«, sagt er noch einmal und schaut mich an. Er spricht jetzt etwas lauter, und ich würde ihn gern an Mutters Worte erinnern, aber meine Zunge ist völlig trocken und liegt ganz still und will nichts sagen. Vielleicht ist es auch besser, denn ich bin ja froh, dass er mich nach meiner Meinung fragt, das kommt nicht so oft vor,
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