Alles - worum es geht (German Edition)
nirgends an und können überallhin wandern, während ich nach dem Alles an einem unbekannten Ort suche, den niemand kennt. Ich hebe zwei Fussel vom Fußboden auf, das Wasser kocht, und ich gehe in die Küche und gieße Kaffee auf. Ich setze mich an den Küchentisch und schaue an die Decke und ins Nichts und spüre, wie Alles in meine Handgelenke zurückkehrt.
Mein Schreibtisch ist groß und freundlich und hat einmal meiner Großmutter gehört, der Mutter meines Vaters. Damals stand er auf einem Gut im tiefsten Seeland, umgeben von Äckern, wo meine Großmutter einen Teil ihrer Jugend verbrachte, wenn sie sich nicht gerade um ihren Vater und sein Durcheinander auf Amager kümmern musste. Das rissige Rosenholz und der löchrige, grau-verschlissene Filz, der einst grün war, sind also Freunde des Alles, und es hilft, die Handgelenke auf das Holz zu legen, um zu spüren, wie die Holzadern in den Puls hineinpochen. Alles läuft zurück in die Finger, und da steht mit einem Mal die ganze Welt zwischen den Zeilen, um die herum ich Wörter finden muss. Auf den Tasten schreibt es sich schneller als mit Bleistiften, aber nie schnell genug. Gedanken kommen und gehen, für manche finde ich rechtzeitig Wörter, andere verschwinden, bevor ich zu ihnen vordringe, und dann kann ich bloß hoffen, dass sie zurückkommen. Um mich nicht zu ärgern, habe ich folgende Regel aufgestellt: Wenn sie wichtig genug sind, dann kommen sie wieder.
Ich spreche nicht von dem, was noch nicht geschrieben ist. Das wäre, als ließe man den Wahnsinn aus dem Mund herausschlüpfen statt aus den Fingern, doch wenn etwas aus dem Mund kommt, steht nichts zwischen den Zeilen. Wörter, die aus dem Mund kommen, sind nur ein eindimensionaler Strich, ohne Zeilen, zwischen die man das Leben legen könnte. Man kann nicht vom Alles reden, ohne dass Alles verschwindet. Deshalb halte ich keine Vorträge, wenn es irgendwie geht. Nur wenn mich die Wirklichkeit und die pure Not dazu zwingen.
Sprechen tue ich dann und wann. Mit anderen Menschen. Oft sogar. Aber das ist Zeitverschwendung. Die meisten Wörter, die gesagt werden, sagen nichts aus. Jedenfalls nichts, was nicht entweder alle schon vorher wissen oder was ihnen gleichgültig ist. Es ist nicht möglich, Alles auf einmal in den Mund zu nehmen. Das ist das Problem. Alles kann auch nicht in den Fingern sein, aber Alles kann durch sie hindurchströmen, und genau darum geht es. Alles steht nicht still. Alles ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Wenn ich sprechen muss, versuche ich mich an das zu erinnern, was ich geschrieben habe, und wenn ich etwas sagen soll, was ich noch nicht geschrieben habe, dann versuche ich mir vorzustellen, was ich gern schreiben würde. Oder ich erinnere mich daran, so zu tun als ob, und wie gesagt, das mache ich ziemlich gut. So gut, dass es mich überallhin brachte auf der ganzen Welt, bis ich schließlich genug zusammengespart hatte und aufhören konnte, so zu tun, als wollte ich immer weitermachen mit diesem So-tun-als-ob. Das wurde etwas anstrengend. Sehr sogar. Zwölf Jahre lang. Plus die neunzehn davor. Heute bin ich trotzdem froh darüber. Ich habe die Wirklichkeit an vielen Orten besucht. Das macht Alles größer. Lässt Alles zusammenpassen. Noch froher bin ich, dass nicht noch mehr Jahre vergehen mussten. Schließlich bin ich nahe genug am Wahnsinn aufgewachsen, um zu wissen, dass man achtgeben muss. Dass einen der Wahnsinn ergreift, wenn man nicht die Finger davonlässt. Davon, so zu tun als ob. Aber auch, dass einen die Normalität gefangen nimmt, wenn man sich ganz weigert, so zu tun als ob. Alles ist eine vorsichtige Wanderung auf schmalem Grat.
Wie ich meine Geschichten erfinde? Wie das wohl alle machen. Habe ich jedenfalls früher geglaubt. Und glaube ich jetzt noch ein bisschen. Auch wenn mir viele erzählen, dass es nicht so ist. Ein Lastwagen, ein Tretroller, und Alles kann passieren. Ein Kastanienbaum. Eine Frau, ein Land. Und vier Männer. Alles ist passiert. Erinnerst du dich nicht daran? Da steht es doch, da, zwischen den Zeilen. Zusammen mit dem Rest der Geschichte. Und der Bedeutung darin. Das ist nicht wahr, oder richtiger, das ist bloß ein Bruchteil der Wahrheit. Denn Geschichten kommen auf Myriaden von Arten zu mir. Verkleidet als ein einzelner Satz, der sich dann als der erste von vielen erweist, als einer aus einer ganzen Abfolge von Sätzen, in denen Bedeutung und Alles zu finden sind. Sie kommen als ein Rhythmus, als eine Tonfolge,
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