Alles - worum es geht (German Edition)
betreten, das andere aufgebaut haben. Ich würde die Karten lieber anders aufstellen, aber ich habe keinen Einfluss darauf. Das Beste, was ich tun kann, ist deshalb, meine eigenen Fantasiekarten aufzubauen, eine über die andere, in Kaskaden, die über jenes Kartenhaus hinwegströmen, das andere Wirklichkeit nennen. Ich komme in der Wirklichkeit nicht zurecht. Das ist sowohl gut wie schlecht. Wenn ich die Karten mische, zeigt sich die Welt, wie ich sie sehe. Da bin ich immer und nie allein. Das ist weder gut noch schlecht. Das ist einfach, wie es ist.
Genau genommen bin ich gar nicht verrückt. Nicht wenn ich schreibe. Dann hängt Alles zusammen, dann weiß ich Alles, denn dann bin ich nicht ich, sondern ein Teil von diesem Alles, und Alles ist es, das die Wörter findet. Am meisten sagt Alles zwischen den Zeilen. Die Wörter sind nur die Spitze der Wirklichkeit. Erklären kann man das nicht. Es ist, als wären die Wörter nur der sichtbare Teil eines Eisbergs, der jedoch nur in dem Moment zu sehen ist, in dem ich die Worte zu einer Geschichte zusammensetze.
Es kann viele Stunden dauern, ins Alles einzudringen, manchmal viele Tage, Wochen, Monate. Alles ist kein Zustand, in dem man sich frei bewegen kann. Alles ist ein Zustand des besiedelten Alleinseins auf der anderen Seite der Einsamkeit. Man kann anderen Menschen nicht gegenübertreten mit dem Blick auf Alles. Erklären kann man das nicht. Es ist einfach so. Man kann auch nicht sagen, dass man Alles weiß, denn schließlich sind die Dinge gleichzeitig so, wie sie keinesfalls sind. Es ist bloß so, als wäre Alles ein Teil von einem selbst, oder vielleicht auch umgekehrt, sodass man selbst Teil von Allem ist und daher dessen Wissen anzapfen kann. Was Alles weiß, hat nichts mit dem Wer, Wo, Was aus den Sendezeiten des intellektuellen Diskurses, der Information und der Quizfragen zu tun. Es gibt einen Unterschied zwischen dem durch Lernen erworbenen Wissen und dem Wissen, das man durch Erkenntnis gewinnt. Alles befindet sich im Inneren, hinter dem Wissen, das außen ist.
In diesem Alles befindet sich ein Faden, dem man folgen muss. Er kommt aus den Fingern heraus wie eine einzigartige Tonfolge. Nicht immer finde ich gleich zu Anfang die richtige. Manchmal erwische ich die verkehrte, schreibe viele Seiten, bis mir klar wird, dass ich den verkehrten Weg eingeschlagen oder den verkehrten Rhythmus gewählt habe oder dass der Faden einfach nicht lang genug ist. Dann muss ich zurück und von Neuem anfangen. Darüber können Wochen vergehen. Und noch einmal von vorn. Oft verlaufe ich mich unterwegs. Folge tief drinnen im Alles einem verkehrten Faden. Ich merke das immer, früher oder später. Das ist der Grund, weshalb es so lange dauert. Es gilt, die einzige Weise zu finden, auf die Alles erzählt werden kann.
Es gibt mehr als ein Alles. Aber für jede Geschichte gibt es nur ein einziges Alles. Oder genauer gesagt, es gibt nur eine Geschichte für jedes Alles. Manchmal vermischt sich das bei mir. Dann ist es, als ob Wahnsinn in die Finger gelangt, wo er nicht hingehört. Oder es ist so, als ob die Wirklichkeit in den Wahnsinn gelangt. Wie das passiert, lässt sich nicht erklären, aber es darf nicht sein.
Oft tue ich, als ob ich wüsste, was ich tue. In der Wirklichkeit. Darin bin ich gut. So gut, dass ich mir selbst glaube. Dann und wann. Im Alles weiß ich genau, was ich tue, die ganze Zeit. Da muss ich nicht so tun als ob. Da kann ich mit vielen Stimmen gleichzeitig sprechen, kann entgegengesetzte Meinungen vertreten und von beiden gleichzeitig überzeugt sein. Daran ist nichts verrückt. Es ist, wie Alles ist. Aber genau deshalb ist es auch unmöglich, eindeutige Aussagen mit Überzeugung zu treffen. Alles ist verloren, wenn ich es versuche.
Der Kaffee ist getrunken, und was soll ich mir jetzt ausdenken? Das Telefon klingelt, und ich stelle den Anrufbeantworter leiser, um nicht zu hören, wer es ist. Ich weiß nicht, warum ich an die neue europäische Verfassung denken muss. Leute, die sich selbst bemitleiden, können einem nicht leidtun, also gehe ich hinaus und setze wieder den Kessel auf. Alles ist mir aus den Fingern geschlüpft, und ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Früher wohnte ich in einem Einzimmerappartement und sah nichts als die Mauer gegenüber. Jetzt wohne ich in einem Palast mit dreieinhalb Zimmern und kann über die Dächer Kopenhagens sehen, vom Christmas Møllers Plads bis Christiansborg. Das hilft beim Denken. Da stoßen die Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher