Alles - worum es geht (German Edition)
als eine Melodie, zu der ich das Lied finden muss. Sie kommen zunächst als Frage, zu der ich die Antwort nicht kenne. Angst? Zweifel? Bosheit? Liebe? Hass? Freundschaft? Glaube? Fanatismus? Die Welt, Europa, Dänemark, das, und die Frage, wie man eine Geschichte zurechtrücken kann, die schiefgelaufen ist? Die Antworten liegen zwischen den Zeilen, wenn ich nur die richtige Geschichte dazu finde, sie auf die einzige Art aufschreibe, die genau diese Geschichte, dieses Alles, verlangt. Stimmt nicht. Nicht auf alle Fragen gibt es Antworten, aber auch die Annäherung, das Fehlen von Antworten, kann zwischen den Zeilen stehen wie eine Frage, die zu ihrer eigenen Antwort geworden ist.
Geschichten zu erfinden ist nicht mein Problem. Die Schwierigkeit besteht darin, auszuwählen, welches von all den vielen Alles, die sich mir aufdrängen, am dringendsten aufgeschrieben werden muss. Als Erstes. Und mich dann an die Stimme dieses einen Alles zu halten, über die ganze Wegstrecke. Das ist das Schwerste. Viele andere Stimmen wollen ebenfalls dabei sein. Und manchmal werde ich dieses Alles leid, das ich gewählt habe. Dann halten mich nur schlaflose Nächte und Kaffee bei der Stange. Und die Erkenntnis: Ich werde niemals wieder ins So-tun-als-ob hineinpassen.
Es klingelt. Verdammt! Der Postbotin gewähre ich acht Wörter. Das sind viele. Ich selbst sage keins, bevor ich ihr den Kugelschreiber aus der Hand nehme und unterschreibe. Dann mache ich die Tür wieder zu und schließe ab. Zu spät: Etwas vom Alles ist herausgeschlüpft. Jetzt klingelt auch noch das Telefon. Ich gehe nicht ran, ich gehe nicht ran, dann gehe ich doch ran, jetzt ist es auch schon egal, Alles ist bereits hinausgeschlüpft. Nein, ja, doch, ich glaube es nicht, vielleicht später, ich weiß nicht, vielleicht morgen oder übermorgen oder nächste Woche, oder können wir nicht noch mal telefonieren? Vielleicht nächstes Jahr. Doch, lassen Sie uns das machen. Das hätte ich nie sagen sollen. Jetzt muss ich später zurückrufen und absagen. Und bis dahin ist dieser Anruf eine Stimme in meinem Kopf, die Alles den Platz nimmt. Ich schicke sofort eine E-Mail. Dass es nicht geht. Dass ich keinen Überblick habe. Außer über diesen Moment, und in diesem Moment suche ich das Alles, das schon wieder weggelaufen ist.
Stell dir vor, Alles wäre etwas, wonach man fahnden könnte, wie ein kleiner weißer Hund mit einem roten oder schwarzen Halsband und einer kleinen runden Metallplakette, auf der steht: Alles bitte an seinen Besitzer zurückschicken. Es gibt Finderlohn. Dann könnte ich Alles einfach als vermisst melden und mich hinsetzen und warten. Wie die Dinge liegen, weiß aber nur ich allein, dass Alles weg ist, und trotzdem kann ich nichts anderes tun, als mich hinsetzen und warten. Warten, worauf? Nein, das geht nicht. Nichts kommt von allein und Alles schon gar nicht. Ich gehe in die Küche und wasche ab. Das ist nicht wahr. Ich sehe den Abwasch an, stelle einen einzelnen Teller in die Spülmaschine, sehe dann die Gläser an, die von Hand abgewaschen werden müssen, und schiebe sie etwas zusammen, hinüber zum Messerblock. Damit es ordentlicher aussieht. Ich setze einen Kessel Wasser auf. Für Tee. Wenn ich heute noch mehr Kaffee trinke, werden mir die Finger steif. Ich stelle mich ans Fenster. Aber heute ist Alles nicht draußen am nassen Vor-dem-Regen-Himmel, also gehe ich stattdessen in meinem Wohnzimmer auf und ab. Rücke die Kissen auf dem Sofa zurecht, hole die Lampe hervor, die aufgehängt werden muss, stelle sie dann wieder zurück. Ich weiß, dass ich das Loch schief bohren werde, wenn ich es jetzt, wo Alles verschwunden ist, tue. Stattdessen sollte ich lieber startklar vor der Tastatur sitzen, wenn Alles das nächste Mal vorbeijagt.
Alles festzuhalten gelingt einzig und allein, indem man die ganze Zeit mit ihm zusammenbleibt. Alles ist im Grunde nicht flüchtig. Alles flüchtet nur vorm So-tun-als-ob. Alles ist glasklare Transparenz, die sich nicht greifen lässt. Eine Unterbrechung, eine Abweichung, und Alles ist weg. Dass Alles verschwunden ist, ist entsetzlich, es reduziert die Welt auf die Wirklichkeit, die nichts mit dem zu tun hat, was in Wahrheit ist. In Alles hineinzukriechen bedeutet, sich gegenüber allen anderen zu verschließen. Man kann nicht in Alles eindringen, solange man eine Verabredung mit der Wirklichkeit hat. Am selben Tag. Oder am nächsten Tag oder am nächsten Wochenende oder in der folgenden Woche. Alles ist alles oder nichts.
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