Alles - worum es geht (German Edition)
Und jetzt habe ich den Kontakt erst mal unterbrochen.
Es ist still. In den Zimmern ist es sonderbar dunkel. Ich schalte das Licht ein, schaue aus dem Fenster. Der Verkehr hat nachgelassen. Ich gehe zurück und sehe auf die Uhr des Notebooks. Achtzehn dreiundzwanzig. Ich müsste doch Hunger haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich etwas zum Mittagessen gegessen habe. Bestimmt nicht. Im Kühlschrank ist nichts. Fünf Stunden. Zum Teufel! Ich hätte bei der Bank wegen meines Überziehungskredits anrufen sollen. Morgen. Ich vergesse den Kühlschrank und setze wieder Wasser auf. Drucke die Seiten aus. Vier. Nehme zwei Scheiben Knäckebrot und setze mich aufs Sofa, lese. Wahnsinn, das ist es, was mir da aus den Seiten entgegenkommt. Ich weiß nicht, ob das Mist ist oder okay. Aber es hat einen gewissen eigenen Rhythmus. Als hätte nicht ich es geschrieben. Den Inhalt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was ich da lese. Das macht nichts. Irgendwann. Aber da stehen Wörter, die ich nicht mag: »Intellektueller Diskurs, Information, Quizfragen«. Die passen nicht hierher. Diese Wörter gehören nicht zum Alles. Ich weiß nicht, warum, es ist einfach so. Ich muss die Stelle ändern. Es muss Wörter geben, die den Alles-Klang haben, auch wenn sie zum So-tun-als-ob gehören. Oder ich muss welche erfinden. Im Moment kann ich das nicht, das muss bis später warten. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Für heute ist Alles aufgebraucht. Oder vielleicht bin ich es auch, die verbraucht ist? Mir gefallen auch »Lastwagen, Tretroller« nicht, auf so etwas komme ich normalerweise nie. Es könnte sein, ist es aber nicht. Dort muss stehen, dass meine Finger nach etwas suchen, wovon ich nichts weiß. Das ist Alles. Wenn meine Finger die richtigen Tasten drücken, dann steht zwischen den Zeilen das, wovon ich nicht wusste, dass ich es wusste. Nicht wusste, dass ich danach suche. Auch das weiß ich nicht, ob das wahr ist. Aber so fühlt es sich an.
Die Fenster beginnen zu beschlagen, und nicht einmal das ist zu verstehen. Ich springe auf und renne in die Küche. Die Luft ist voll Wasserdampf, wie Watte, und ich reiße das Fenster weit auf. Der Kessel ist leer gekocht, aber der Boden ist noch nicht durchgebrannt. Dieses Mal. Ich weiß nicht, warum ich elektrische Wasserkocher nicht mag, damit würden manche Dinge einfacher. Ich gehe zurück zum Sofa. Hebe die Papiere auf und lese noch einmal. So kann man nicht schreiben. Das will niemand lesen, so was vollständig Banales, unerträgliche Ich-Ich-Ich-Sätze, die zu nichts führen. Morgen muss ich von vorn beginnen.
Manche Tage sind wie Gummi. Ein einziger langer Anstieg mit einem Schritt vor und zweien zurück. Ich komme nirgendwohin, höchstens am Ende ins Bett, mit dem Gefühl, dass Alles mich verlassen hat und nie mehr wiederkommt. Aber so ist es nie. Wenn ich im Alleinsein verharre, kommt Alles zurück. Früher oder später. Wenn ich mich voller Verzweiflung hinaus in die Wirklichkeit bewege, dauert es länger, bis ich Alles wiedersehe. Trotzdem kann es zwischendurch einmal notwendig sein, ohne Alles in der Wirklichkeit zu sein. Die Wirklichkeit hat unter allen Umständen ihre natürliche Begrenzung. Früher oder später drängt Alles sich auf, und ich muss nach Hause gehen und Alles hereinlassen. Alles kehrt oft größer zurück. Wenn ich ganz in die Wirklichkeit hinausgehe und mich der Welt aussetze, ganz ohne So-tun-als-ob, dann kann ich sicher sein, dass Alles gewachsen ist, wenn ich es wiedersehe. Das braucht Zeit, und es ist schrecklich anstrengend. Aber so muss es sein.
Heute ist so ein Gummitag, ich schlafe von elf Uhr bis zwölf und wieder von zwei bis vier. Ich wage nicht hinauszugehen, auch wenn das vielleicht das Beste wäre. Ich habe einen Abgabetermin und kann es mir nicht leisten, dass Alles gestört wird. Verflucht! Ich habe wieder vergessen, zur Bank zu gehen. Ich muss auf Alles vertrauen. Alles weiß, was Alles sagen wird, auch wenn ich selbst nicht weiß, was Alles sagen wird. Erst wenn Alles geschrieben ist, weiß ich, dass ich immer gewusst habe, was Alles sagen würde. Das ist nicht zu verstehen und ist zugleich wahr und nicht wahr. Im Moment weiß ich nur, dass das, was ich gestern geschrieben habe, fürchterliches Gefasel ist, aber ich habe keine anderen Ideen.
Romane schreibe ich ohne Abgabetermin, dann kann der Raum zwischen den Zeilen so groß wie nötig werden. Egal, wie lange es dauert. Je mehr ich zwischen den Zeilen sagen kann, desto besser
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