Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Wissenschaftlern, Koryphäen des Agrarsektors, Kolchosvorsitzenden, Sowchosedirektoren, Agronomen und anderen Fachleuten. Nach gründlichen Diskussionen bildete sich die Meinung heraus, im Zentrum der Aufmerksamkeit des Lebensmittelprogramms müsse der Mensch stehen, der mit der Erde arbeitet und lebt, also der Bauer. Später kam ich zu der sicheren Überzeugung: Was in den Jahren der Kollektivierung geschehen war, ließ sich in den Folgejahren auf keine Weise wiedergutmachen. Einen Teil der Bauernschaft, und zwar den fähigsten, hatte man einfach ausgerottet. Man nannte sie »Kulaken«, Ausbeuter und belegte sie mit den letzten Schimpfnamen. Millionen Menschen wurden von ihrem Land verjagt. Andere trieb man mit Gewalt in die Kolchose, indem man ihr Vieh, ihr Inventar, all das, wofür der Bauer lebte, vergesellschaftete. Die Menschen, die von der Sowjetmacht gleich nach der Revolution Land zugeteilt bekommen hatten und etwas vom Ackerbau verstanden, wurden von armen Bauern zu Mittelbauern, obwohl auch arme Betriebe weiter existierten, und zwar gar nicht so wenige. Die Kollektivierung war in erster Linie nötig, um die totale Kontrolle über die Landwirtschaft zu gewinnen …
Trotz aller Schwierigkeiten gelang es, die Stoßrichtung des Lebensmittelprogramms festzulegen und seine Finanzierung zu sichern. An die Spitze wurden Fragen der sozialen Infrastruktur des Dorfs gestellt. Dafür wurden 140 Milliarden Rubel veranschlagt. Dieses Unterprogramm umfasste den Bau von Wohnraum, Wegen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Bibliotheken etc. Manchmal kam es mir einfach unrealistisch vor, und ich dachte, wir hätten uns übernommen …
Je weiter wir mit dem Lebensmittelprogramm vorankamen, desto klarer wurde die Notwendigkeit, einen agrarindustriellen Komplex einzurichten. Dieser war vorher künstlich zerschlagen worden. Drei Bereiche waren zu berücksichtigen: die eigentliche landwirtschaftliche Produktion auf den Feldern und Farmen; die industrielle Produktion, die dem Dorf die materiellen und technischen Ressourcen lieferte; und schließlich die weiterverarbeitende Industrie, die die »Gaben der Natur« in Lebensmittel verwandelte. In der Marktwirtschaft spielt das keine Rolle: Die Beziehungen zwischen den einzelnen Partnern gestalten sich nach bestimmten Spielregeln und bilden sich unter Einwirkung des Markts von selbst heraus. Unter den Bedingungen der Planwirtschaft dagegen, wo die drei Bereiche verschiedenen Ministerien und Behörden unterstellt waren und von verschiedenen Abteilungen im ZK , der Regierung und der Staatlichen Planungskommission betreut wurden, gab es keine organische Verbindung zwischen ihnen. Das machte die Steuerung äußerst schwierig. Jeder Verantwortliche verteidigte nur die Positionen seiner Behörde. Was herauskam, war ein entsetzliches Gerangel, totales Chaos, Vergeudung von Mitteln, und all das im Namen einer Planwirtschaft.
Als ich in diese Dinge nicht mehr nur im Rahmen einer Region, sondern des ganzen Landes Einblick erhielt, sah ich die wahren Ausmaße des Durcheinanders, der Verzerrungen und falschen Proportionen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bekam ich, ehrlich gesagt, Angst. Man konnte sich eigentlich nur wundern, dass das System noch nicht zusammengebrochen war. Das hatten wohl nur das ZK der KPDSU und das Politbüro, überhaupt der Parteimechanismus verhindert. Wird es mir gelingen, etwas zu ändern?, fragte ich mich immer häufiger. Aber es war zu spät, um zurückzuweichen.
Nach langen Diskussionen kamen wir überein, der agroindustrielle Komplex müsse die Betriebe für Verarbeitung, Bau, Kauf und Instandhaltung von Landmaschinen (Selchostechnika), den Agrochemischen Dienst, die Ministerien für Pflichtablieferungen, Bodenmelioration und Wasserwirtschaft einbeziehen. Daraus sollte ein leistungsstarker Komplex gebildet werden, in dem etwa 38 Prozent der Produktionsgrundfonds des Landes konzentriert wären. Nach Schätzungen würde er 40 Prozent des Nationaleinkommens erwirtschaften können.
An der Spitze sollte ein agroindustrielles Komitee der Union stehen, aber die Schlüsselrolle sollten die Gebiets- und Regionseinheiten spielen. Die territorialen Einheiten sollten genügend Vollmachten haben, um nicht für jeden Schritt die Erlaubnis in Moskau einholen zu müssen. Zur Vergewisserung, zusätzlichen Begutachtung und Erprobung der geplanten Umstrukturierung wurden Treffen mit Wissenschaftlern, Leitern von Kolchosen und Sowchosen sowie Sekretären von
Weitere Kostenlose Bücher