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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Und mir strich man über den Kopf und lobte das Glück, dass ich so einen Vater hätte.
    Er verlangte nicht viel, wie er meinte, nur Gehorsam, pünktlich das Essen, Ruhe im Haus und sparsames Wirtschaften. Die Regeln waren klar, nur ich habe sie nie herausgefunden.
    Redete ich bei Tisch, konnte er es als undiszipliniert sanktionieren, sagte ich nichts, wertete er es als Verstocktheit. Half ich der Witwe Mauthe, die Tasche tragen, so wäre das gut gewesen, hätte ich mir nicht nachher fünf Pfennige geben lassen. Ungefähr so kompliziert, wie für mich die Regeln meines Vaters waren, erschien mir das, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hat: wie man Gottes Gnade erringt. Mein Vater und Gott waren ein und dasselbe.
    An jenem Nachmittag, als ich bei ihm eintrat und er mir vom Wiegen und Wägen erzählte, wirkte er traurig und erschöpft, aber zugleich heiter und abgeklärt. Solche Seelenzustände habe ich später im Lauf meines Berufslebens immer wieder beobachtet, wenn ein Kollege einen schwierigen Prozess gewonnen hatte oder wenn ein Verbrecher nach einem langen Prozess endlich sein Urteil hörte.
    An diesem Tag habe ich aufgehört, die Regeln meines Vaters entschlüsseln zu wollen. Ich habe ihn aus meinem Denken gestrichen. Er fand in meinem Kopf nicht mehr statt. Ob er zürnte, mich bestrafte oder lobte, ich nahm es nicht mehr wahr. Es geschah meinem Körper, nicht mir, einer unbedeutenden Hülle, die nichts mit mir zu tun hatte. Ich wollte nur noch eines: weg!«
    Richard unterbrach sich und schluckte.
    »Das zweite Ereignis hat mit der Schule zu tun. Schule war für mich immer Urlaub aus einer Art Isolationshaft gewesen. Dreißig Kinder aus allen Schichten jeden Tag. Ich habe die Schule geliebt, auch wenn ich nicht wirklich dazugehörte. Mehr Spott als ich musste der junge Paul Filser ertragen, der kleine Bruder von Josef, dem Vater von Jannik. Paul spielte Blockflöte wie ein Engel und redete lieber mit den Mädchen.
    Eines Tages blieb sein Stuhl leer. Die Klassenlehrerin teilte uns mit, dass er tot sei. Man munkelte, er sei betrunken gewesen und habe sich selbst das Leben genommen, indem er in einen Mähdrescher hineingekrochen sei. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum alle so erschrocken und zugleich so erleichtert waren. Mein Vater sprach in der Bibelstunde von einem warnenden Beispiel. Aber das Entscheidende sprach niemand aus, das, was man damals nur flüsternd mit Siebzehnter Mai umschrieb. Eine Anspielung auf § 175 StGB, der von 1871 bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte. Ich habe es damals nicht wirklich begriffen. Den Tod Pauls nahm ich hin wie viele andere Unerklärlichkeiten in meiner Kindheit, die ich mir auch später nicht zu erklären versucht habe.«
    Er rüttelte am Balken. Die Pfosten und ihre Verbindungen knirschten. Erst als er sich dergestalt vergewissert hatte, dass er das Geländer im Prinzip aus den Verankerungen reißen konnte, lockerte er seine Hände.
    »Ja, und dann … dann waren da noch der Zeitentalhof und Bullwinkle und das Guckloch zur Freiheit. Eine unfassbare und banale Freiheit. Die Freiheit, sich aus der Speisekammer eine Tomate zu holen, im Heu zu toben, über ein Missgeschick der Nachbarn zu lachen. Barbaras Mutter, meine Tante Anna, war ein Wesen, wie ich es nie wieder erlebt habe. Jeden Morgen hat sie sich am Wasserhahn in der Küche rasiert. Sie furzte, sie kokettierte mit den Knechten, sie war gewaltig und freundlich, laut und sanft. Und sie konnte lachen. Ich war süchtig nach diesem Hof und diesem Leben, und eines Nachts riskierte ich alles, stieg aus dem Fenster und lief hinüber und warf Steinchen an Bullwinkles Fenster, damit sie herunterkam. So begannen unsere nächtlichen Steifzüge. Und mein Vater ist mir nie draufgekommen. Er war also doch nicht allwissend und nicht allmächtig. Irgendwann nahm ich seine alte Parabellum mit. Wir schossen Hasen und Rebhühner. Über die Eyach legten wir ein Brett, sodass ich in fünf Minuten drüben und wieder hüben war. Eines Nachts …«
    Er hustete, hob die Augen und suchte die Höhenzüge jenseits der Eyach und der Häuser von Balingen ab.
    »Der Turm versperrt die Sicht«, stellte er fest. »Da drüben, hinter Frommern und Weilstetten, liegt das Hörnle. Dort im Wald sind wir oft gewesen, Bullwinkle und ich. Eines Nachts- die Getreideernte hatte gerade begonnen – waren wir wieder dort. Es war die Nacht auf Sonntag. Wir hatten nichts geschossen und waren

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