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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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»Ent … entschul … entschuldigen Sie. Ich muss … ich muss mal kurz raus.«
    »Ja, der Wetterumschwung«, bemerkte Zittel in der Blüte seines Alters. »Das verträgt nicht jeder.« Er eilte längs durch den Saal und öffnete eine verglaste Tür. Richard stolperte hinaus auf die hölzerne Verbindungsbrücke zum Wasserturm und klammerte sich an das Geländer.
    Ich zog die Tür von außen vor Zittels Nase zu.
    Tief unten staute sich mehlig grün die flutvolle Eyach am Wehr, entließ einen Teil des Wassers in den Mühlbach entlang der Stadtmauer und rauschte einen Meter hinunter ins schäumende Flussbett. Die Terrasse von Klein Venedig war menschenleer, die Stühle hielten, gegen die Tische gekippt, Montagsruhe.
    »Was ist los?«, erkundigte ich mich.
    »Nichts.« Schweiß trielte aus Richards Schläfenhaar die peinlich rasierte Wange hinunter. Er riss sich den Kragenknopf auf und lockerte den Krawattenknoten. So ähnlich hatte auch Vicky ausgesehen, kurz bevor er sich in Krämpfen wand. Hastig ging ich unsere Nahrungsaufnahme durch. »Hast du was getrunken?«
    »Ich trinke nicht!«
    »Das meine ich nicht. Hast du heute Morgen im Haus deines Vaters irgendeine Flüssigkeit außer Kaffee zu dir genommen?«
    »Hör auf, Lisa!« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Mein Gott!«
    »Was ist es dann?«
    Er wankte.
    »Gut, dann hole ich jetzt Dr. Zittel. Er ist Arzt.«
    »Bloß nicht!« Er ließ die Hände sinken und gab sich Mühe, etwas weniger irre auszusehen. »Halt mir bloß diesen Zittel vom Leib.« Er blickte sich in Panik um. Der Doktor stand genau hinter der Tür und glubschte durchs Glas.
    »Ich bin … ich bin schon okay. Ich … ich bin … okay. Es ist nur … gnade uns Gott!«
    Ich machte Zittel ein munteres Zeichen der Beruhigung und zog Richard ein Stück zum Rundturm hinüber. Er hustete und würgte fürchterlich an den Gräten der Erinnerung.
     

37
     
    »Ich hab’s nicht gewusst! Ich habe es nicht gewusst, bis eben. Wirklich. Glaub mir, Lisa. Ich habe immer den Kopf geschüttelt über das mit der Verdrängung. Das kann doch nicht sein, dass man etwas Gravierendes vollständig vergisst. Aber ich … ich habe es nicht wissen dürfen, wenn ich weiterleben wollte, wenn ich überleben wollte im Haus meines Vaters.«
    Er blickte mich unendlich verwundert an.
    »Drei Dinge sind damals passiert, Lisa. Drei Dinge. Ich erinnere mich an alle drei einzeln, aber ich habe sie nie miteinander in Verbindung gebracht.«
    Er holte Atem wie auf einem Achttausender im Himalaja.
    »Das eine, woran ich mich erinnere, ist, wie ich ins Arbeitszimmer meines Vaters trat. Ich war vierzehn Jahre alt. Es war nach dem Mittagessen. Ich erinnere mich an meine Gefühle: trotziger Mut, Verachtung und Angst … immer diese Angst. Ich trat ein, um mir meine Strafe abzuholen, aber mir fällt nicht ein, wofür er mich bestrafen wollte. Mein Vater pflegte nicht im Zorn zu strafen. Er bestellte mich ein, oft erst am anderen Tag, um mir sein Urteil zu verkünden. Manchmal durfte ich auch selbst eine Strafe vorschlagen. Fünf Seiten aus der Bibel auswendig lernen, eine Stunde in der Hocke in einer Ecke sitzen. Ich erinnere mich, dass mein Vater auf mich herabblickte, traurig und ernst, wie er stets auf mich herabzublicken pflegte. Er hängte seine Hand mit Daumen und Zeigefinger in die Uhrentasche seiner Weste ein, trat an die Waage von Philipp Matthäus Hahn und erläuterte mir das Geheimnis der Zahl 33. Er sprach vom Wiegen und Wägen, von Justitia mit der Augenbinde, die ohne Ansehen der Person urteilt, vom Jüngsten Gericht und der Seelenwaage, auf welcher der gute Teil des Menschen schwerer wiegen müsse als der böse, und von der Hexenwaage, welche die Hexe durch ihr Leichtgewicht entlarvt, weil sie ihre Seele an den Teufel verloren hat. Er erzählte mir, wie schwer es sei, gerecht zu sein und in gottloser Zeit Gottes Willen zu erkennen, und dass er hoffe, dass sich, wenn er dermaleinst die Waage besteigen müsse, die Schale ein klein wenig zu seinen Gunsten neigen werde.
    Zum ersten Mal in meinem Leben zweifelte ich daran.
    Dabei führte mein Vater ein Leben, wie ich es mir als Kind gottgefälliger nicht vorstellen konnte. Er betete, er las mit uns die Bibel, er veranstaltete Stunden und Bibelkreise, er hielt die Sonntagsschule. Mein Vater war beredt, ein eleganter, wenn auch unnachgiebiger Prediger, bezwingend und überzeugend. Und so mancher beneidete meine Mutter um die Gesellschaft dieses brillanten, gerechten und gütigen Mannes.

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