Allmachtsdackel
ziemlich nahe muhen gehört, dann auf einmal sehr viel weiter weg.
»Wenigstens wissen wir nun«, sagte Barbara, die das Telefongespräch beendet hatte, »warum unsere Leitkuh Alice gestern so durch den Wind war. Sie hat einen Menschen getötet.«
Ich konnte nicht verhindern, dass Zweifel aus sämtlichen Narben in meinem Gesicht herausblühte.
»Kühe sind keine gefühllosen Fleischberge«, belehrte mich Barbara. »Sie trauern, wenn man ihnen ihre Kälber wegnimmt, sie suchen und brüllen. So manche Kuh verwindet es nie. Sie schließen untereinander Freundschaften fürs Leben. Und sie haben ihren Stolz. Alice grämt sich, dass sie sich von einem Menschen hat verführen lassen, ihre Herde von der Weide in die Sackgasse des Altorts zu führen.«
»Aber sie grämt sich nicht, dabei einen von uns getötet zu haben!«, protestierte ich.
»Bist du dir da so sicher, Lisa?«
»Ja.«
Barbara lachte. »Jedes Säugetier kann zwischen Leben und Tod unterscheiden. Raubtiere wissen, wann sie töten. Ein Löwe, der die Nachkommen eines Konkurrenzmännchens totbeißt, weiß, dass er Existenzen beendet. Rinder wiederum töten nicht. Ihnen ist jedes Individuum so kostbar, dass auch die Rangkämpfe unter den Stieren ritualisiert sind, damit keiner zu Tode kommt. Und unsere Samanta hat gestern Abend genau gespürt, dass Alice verunsichert ist und sich selbst und uns Menschen nicht mehr traut.«
»Und warum ist sie uns dennoch gefolgt?«
»Weil sie nicht blöd ist und selber weiß, welchen Weg sie nehmen muss, um die Herde zur Weide zurückzuführen. Und da wir ihr genau diesen Weg vorgeschlagen haben, ist sie uns gefolgt.«
10
Die Terrassentür stand offen. Still blühten die Tulpensessel im Wohnzimmer vor sich hin. Tiefer im Haus murmelten Stimmen. Ich nahm Cipión hoch, ehe er mir abhaute, und durchquerte den Salon zum Vestibül.
»Was willst du? Katholiken lügen!«, hörte ich Lotte mit erhöhter Stimme eine Wand weiter sagen. »Du weißt doch, wie das mit Onkel Alfons lief. Als er bettlägerig war, hat seine Gerda eine Polin ins Haus geholt. Die hat dreimal am Tag den Rosenkranz gebetet, und wie er tot war, gehörte der Gerda nur noch der Pflichtteil und sie musste das Haus verkaufen, um das polnische Ripp auszuzahlen. Ich will ja nichts sagen, aber …«
»Dann sag auch nichts, Mama!«, antwortete Richard.
»Eine Frau kennt man nie, Richard! Und Männer in deiner Position müssen schon a bissle aufpassen!«
»Mama, Lisa hat viel mehr Geld als ich!«
»So? Woher denn?«
Ich setzte Cipión auf den Boden. Er rannte um die Ecke, ich folgte hüstelnd.
Lotte stand in der nächsten Tür mit Dutt und Rücken zu mir. Cipión wetzte an ihr vorbei und rannte mit fliegenden Ohren auf Richard zu, der auf einem Schreibtischstuhl saß und sich der Tür zugedreht hatte. Lotte fuhr herum. Sie war ganz in Schwarz, einschließlich schwarzer Nylons und Lackschuhe. Ihre grauen Augen flackerten. »Ah, das Fräulein Nerz.«
»Guten Morgen, Frau Diplomingenieurin.«
Sie spitzte ihren Blick in meinen. »Sie haben es ja gestern ganz lustig mit mir gehabt, was? Tut man das da, wo Sie herkommen, sich über eine frischgebackene Witwe lustig machen, wenn die Leich noch droben liegt?«
»Und Sie, behandeln Sie alle Freundinnen von …«
»Lisa«, warnte Richard leise, »du sprichst mit meiner Mutter!«
Ich holte tief Luft, sehr tief … und brach ab. Wenn Richard leise sprach, dann war es akut.
Lotte kniff einen winzigen Triumph in die Mundwinkel, hob das Kinn, straffte ihre Osteoporose Gestalt und ging mit lauten Absatzschlägen an mir vorbei aus dem Zimmer.
Richard hatte sein schlappohriges Begrüßungsbündel inzwischen beruhigt und blickte zu mir hoch, auf den Lippen ein kaum sichtbares Lächeln.
Es war ein Arbeitszimmer, in das ich getreten war. Man blickte hinaus ins Tal, hauptsächlich auf Bäume. Der Schreibtisch war ein leicht gebautes Möbel mit an den Enden nach vorn gebogener Platte aus edelstem dunklem Holz und spiegelnd poliert. Darauf stand, fremdartig bunt, ein Computerflachbildschirm. Er zeigte in gängiger XP-Umgebung eine Passwortabfrage. Auf dem Tisch stapelten sich aufgeschlagene und ineinandergeschobene Aktenordner. Sie hatten ein altmodisches Feder- und Tintenset aus Messing an den Rand gedrängt.
Auch hier standen Schränke und Sideboards mit jenen seltsamen Buchseitenschwüngen in den Türen und silbernen Beschlägen wie Blumenstiele. Die Bretter waren dunkel, die Kanten hell furniert. Die waagrechten
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