Allmachtsdackel
meine Asche an Richards Oberarm vorbei in den Aschenbecher, der neben der Tastatur stand. »Allerdings hat der Arzt den Todeszeitpunkt auf 18 Uhr festgesetzt.«
Richard nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette.
»Das deckt sich auch mit deinem telepathischen Gedenken an deinen Vater beim Glockenschlag der Haigstkirche.«
»Die natürlich keineswegs aussagekräftig ist.«
»Der Arzt dürfte sich an den ersten Leichenerscheinungen orientiert haben: Totenflecke, Körpertemperatur. Und wenn nicht, wäre er schlampig gewesen und der Totenschein schon deshalb fragwürdig.«
Richard stauchte die Kippe in den Aschenbecher. »Lisa, wo ist das Problem?«
»Ich vermute, dass in einem grundsoliden bürgerlichen Haus wie diesem die Essenszeiten konventionell geregelt sind.«
Richard deutete ein Lächeln an. »Mittags um halb eins, abends um sieben. Frühstück morgens um Viertel nach sieben, sonntags um acht.«
»Perfekt! Nehmen wir also an, deine Eltern waren gestern um eins, spätestens Viertel nach eins mit dem Mittagessen fertig. Dein Vater begibt sich nach oben ins Schlafzimmer.«
Richard nickte.
»Dort entkleidet er sich bis aufs Adamskostüm und zieht sich den Schlafanzug an. Eigentlich ein ziemlicher Aufwand, vor allem bei der Affenhitze. Da hätt sich’s besser im Hemdchen geschlafen.«
»Ein Ritual, Lisa. Mein Vater hat sein Leben in Rituale gebaut. Gegessen wird am Tisch, geschlafen wird im Bett. Und keinesfalls in Unterwäsche wie die Proleten. Dann wird gebetet und so weiter.«
»Okay. Ich schätze, trotz aller Rituale und auch wenn er noch die Bibel gelesen und/oder eine Reihe Sudoku-Quadrate ausgefüllt hat, dürfte er gegen zwei gelegen und geschlafen haben.«
»Hm.«
»Aber vier Stunden?«
Richard fuhr sich über die Haare.
Ich löschte meinen Zigarettenstummel. »Hat dein Vater jemals einen ganzen Nachmittag verpennt?«
»Nein. Höchstens zwei Stunden. Seinen Wecker habe ich als Kind bis in mein Zimmer rasseln hören.«
»Einen Wecker? Ich habe keinen Wecker gesehen im Schlafzimmer.« Das fiel mir erst jetzt auf. »Keine einzige Uhr.«
»Meine Mutter hat die Uhren von den Nachttischen genommen. Funkuhren inzwischen. Sie lehnt zwar diesen Aberglauben mit den Spiegeln und dem Uhranhalten ab, aber sie hat es dann doch nicht sehen können, wie die beiden Wecker auf dem Nachttisch tickten. Sie hat sie heute Morgen wieder hingestellt, mit der Bemerkung übrigens, dass der Vati …« Über Richards Gesicht zuckte ein gequältes Lächeln. »… dass mein Vater seinen ja nun nicht mehr brauche.«
»Ja, deine Mutter hat es faustdick hinter den Ohren!«
»Lisa, bitte!«
»Sorry. Langer Rede kurzer Sinn: Dein Vater wäre also spätestens um vier wieder aufgestanden.«
Richard seufzte. Cipión hob den Kopf und leckte ihm die Fingerspitzen der zwischen den Knien herabhängenden Hand. »Gestorben ist Martinus aber erst um sechs. Stellt sich die Frage: Was ist in diesen zwei Stunden geschehen? Warum ist er nicht aufgestanden? Konnte er nicht? Vielleicht sollten wir doch in die vertraulichen Teile der Totenscheine gucken. Wo sind sie übrigens?«
»Bei der Leiche, wie es sich gehört. Der Bestatter wird sie an die zuständigen Behörden weiterleiten.«
»Okay, dann müssen wir uns selbst behelfen, bis wir Zittel befragt haben.«
»Den wirst du nicht befragen!«
»Schon gut. Also nehmen wir an, dein Vater fühlte sich schlecht. Warum hat er nicht nach deiner Mutter gerufen?«
»Meine Mutter war nicht zu Hause. Sie hat eine Freundin im Pflegeheim besucht. Und später war sie im Garten.«
»Haben deine Eltern keine Handys?«
»Doch.«
»Dann hätte dein Vater deine Mutter anrufen können. Gehörte er zu denjenigen, die so ein neumodisches Glump wie ein Handy auf dem Nachttisch liegen haben?«
Richard zuckte mit den Schultern.
»Wenn nicht? Dann muss er versucht haben, sein Bett zu verlassen, falls er zum Telefon gewollt hat. Vielleicht ist er auf dem Weg zur Tür zusammengebrochen. Dann hätte deine Mutter ihn allerdings nicht im Bett finden können und hätte gelogen.«
»Vielleicht hatte er sein Handy auf dem Nachttisch.«
»Und wo ist es jetzt?«
Richards Blick schwenkte suchend über den Schreibtisch.
»Hier.« Er entzog es mir und tippte sich selbst durchs Menü. »Der letzte Anruf ging an das Handy meiner Mutter. Allerdings vor zwei Tagen.« Er warf das Handy auf den Schreibtisch zurück.
»Also kein letzter Anruf in Todesnot«, konstatierte ich. »Aber warum ist dein Vater im Bett
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