Allmachtsdackel
Flächen wirkten wie abgeräumt. Es stand buchstäblich nichts auf ihnen.
In der Ecke neben der Tür gruppierten sich Sitzmöbel aus der Familie der Tulpensessel und ein Tisch mit wilder Maserung auf einem wie ein Ast gegabelten Bein. Darüber hing an der Wand ein Gerät aus Eisen und Blech mit Zahlen, das ich als Waage identifizierte, obgleich es keine Ähnlichkeit mit den mir bekannten Balkenwaagen hatte. Der Wägearm ragte einseitig schräg in die Höhe. Daran eine Schale. Hinter einem Viertelkreis aus Blech mit Skalen knicke die andere Hälfte des Wägearms ab. Daran hing ein festes Gewicht. Zog man an der Waagschale, dann lief ein Zeiger über den gelb und rot lackierten Viertelkreis aus Blech und eine unübersichtliche Menge von Zahlen hin.
»Die berühmte Neigungswaage, die der Pfarrer und Erfinder Philipp Matthäus Hahn aus Onstmettingen vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren entwickelt hat.« Richard stand auf und kam heran. »Das Neue war, dass man keine Gegengewichte mehr auflegen musste und das Gewicht des Gegenstandes anhand der Neigung des Arms auf der Skala ablesen konnte. Die hier hat noch eine Besonderheit. Sie ist noch aus der Zeit, als das württembergische Pfund 467 Gramm wog, 33 Gramm weniger als heute.« Richard stockte, blickte verwundert in die weit offen stehende Tür seiner Erinnerung und fuhr in fast nostalgischem Ton fort: »Für meinen Vater war die 33 eine bedeutsame Zahl. Sie steht für das Alte und das Neue Testament, denn Alt und Neu bestehen jeweils aus drei Buchstaben.« Er stockte wieder kurz. »Das Wort Testament hat 9 Buchstaben, was wiederum das Produkt von 3 mal 3 ist. Schreibt man 3 und 9 hintereinander, ergibt sich die Anzahl der Bücher des Alten Testaments: 39. Und nimmt man 3 mit 9 mal, so ergibt sich die Anzahl der Bücher des Neuen Testaments: 27.« Sein Blick kehrte in die Gegenwart zurück. »Ein wertvolles Stück. Ich dachte, mein Vater hätte sie dem Waagenmuseum überlassen, so wie die anderen alle.« Er ließ den Blick über die leeren Anrichten gleiten. »Bis Pfingsten stand hier auch noch der Prototyp der Neigungsschaltgewichtswaage, die mein Großvater Wilhelm mit eigenen Händen gebaut hatte und die nach dem Krieg unser Verkaufsschlager war. Da man vor 1921 Waage nur mit einem a geschrieben hat, steht bei ihr sogar noch Weber Wage auf der Skala.«
»Vielleicht wollte dein Vater dir doch eine Kleinigkeit vermachen. Wenigstens ein Waage«, frotzelte ich. »Dir ist doch klar, dass du mich Ripp nie wiedersehen würdest, wenn du nichts erbst.«
»Sei nicht zu streng mit meiner Mutter. Sie kommt selbst aus kleinen Verhältnissen. Sie hat’s nicht anders gelernt.«
»Hast du schon ein Testament gefunden?«
»Ich habe nicht danach gesucht, Lisa.« Richard ging hinüber zu dem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch und langte nach der Zigarettenschachtel neben dem Aschenbecher, in dem sich schon einige Kippen krümmten. Mütter verboten ihren Söhnen doch nichts. Außer unpassenden Freundinnen. Richard trug zu korkfarbenen Hosen ein violettes Poloshirt, unter dem sich sein Waschbrettbauch erahnen ließ, den er seit Jahrzehnten pflegte, unter anderem eben mit Nikotin.
»Was wird das dann hier?«, fragte ich mit Blick auf die Ordner.
»Versicherungen, Krankenkassenabrechnungen, Kontoauszüge. Viel ist nicht mehr da, aber er hat eine großzügige Lebensversicherung zugunsten meiner Mutter abgeschlossen.«
»Zur Not kann sie ja die Möbel verkaufen, falls sie wirklich original Art déco sind.« War es eigentlich Zufall, fragte ich mich plötzlich, dass Richard in Stuttgart eine Jugendstilwohnung gemietet hatte? Würde er eines Tages die Möbel aus seinem Elternhaus dort hineinstellen? »Allerdings wäre es das Letzte, was ich deinem Vater zugetraut hätte: Art deco mit seiner Sinnlichkeit und Farbigkeit und seinen kostbaren Materialien.«
»Die ganze Einrichtung stammt noch von meinem Großvater Wilhelm.« Richard deutete ein Lächeln an. »Zum Glück war mein Vater zu sparsam, neue Möbel anzuschaffen, solange es die alten noch tun. Und es war auch nicht mein Großvater, der das Haus eingerichtet hat, sondern meine Großmutter Eulalie. Sie hat die Möbel in den Zwanzigern aus Paris mitgebracht. Sie war Opernsängerin. Sie soll eine sehr schöne, kluge und musische Frau gewesen sein, Sopranistin und Sozialistin. Leider starb sie bald nach dem Krieg, und ich habe sie nicht mehr kennen gelernt.«
»Oje! Frommerner Waagenbauer statt Cabaret und
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