Allmachtsdackel
liegen geblieben und hat zwei Stunden lang wie ein Lamm mit offenen Augen auf den Tod gewartet? Hat ihn am Ende jemand daran gehindert aufzustehen?«
»Ein Schlaganfall?«, schlug Richard nüchtern vor. »Vielleicht war er gelähmt und konnte nicht telefonieren.«
»Seine Pupillen waren aber nicht unterschiedlich geweitet.«
»Was genau willst du mir sagen, Lisa?«
»Entweder der Todeszeitpunkt stimmt nicht, Richard, oder dein Vater ist nicht im Bett gestorben. Für einen früheren Todeszeitpunkt, beispielsweise gegen vier Uhr am Nachmittag, spricht, dass die Leichenstarre weit fortgeschritten war. Das könnte allerdings auch andere Gründe gehabt haben, die Hitze, eine große körperliche Anstrengung. Beispielsweise könnte dein Vater gleich wieder aufgestanden sein. Dann muss er sich aber auch wieder angezogen haben. Oder neigte dein Vater dazu, im Schlafanzug durch die Wohnung zu schlappen?«
Unnötig zu sagen: »Nein.«
»Wenn er aber nicht im Bett gestorben ist, warum sollte es so aussehen, als sei er friedlich im Bett eingeschlafen? Und es sollte für uns alle so aussehen. Der Arzt muss nämlich den Toten vollständig entkleiden. Danach hätten Barbara und Lotte ihm zur Aussegnung etwas Feierlicheres als den albernen Schlafanzug anziehen können.«
»Vielleicht hat der Arzt die Leiche nicht entkleidet.«
»Allerdings wäre Martinus dann tatsächlich im Bett gestorben. Und das bezweifeln wir ja gerade.«
»Du bezweifelst das. Aber wer hätte ihn denn wieder ins Bett hieven sollen? Meine Mutter jedenfalls nicht.«
»Barbara könnte ihr geholfen haben.«
»Warum hätte sie sollen?«
Außerdem bekam Barbara wegen eines vor kurzem gebrochenen Handgelenks derzeit kein Vakuumglas auf, fiel mir ein. »Sie haben immerhin auffällig lang gebraucht, bis sie den Arzt verständigt haben, und erst dann hat deine Mutter dich angerufen.«
»Lisa, du wirst jetzt aber nicht einen Mordverdacht gegen meine Mutter konstruieren und meine Cousine zur Helferin erklären!« Richard stand unwillig auf und trat ans Fenster.
Ich setzte mich auf den frei gewordenen Stuhl an den Bildschirm mit der Passwortabfrage, tippte das Wort »Lotte« als Sternchen in die Passwortmaske und drückte auf Datenfreigabe. »Falsches Passwort.«
Richard straffte sich am Fenster und reckte den Hals. »Was ist denn da los?«
Ich trat neben ihn. Von seinem bloßen, leicht gebräunten Arm ging eine vitale Hitze aus, die die Härchen auf meinem nackten Arm gegen den Strich bürstete.
»Polizei«, bemerkte er.
Zwischen von der Trockenheit halb entlaubten Büschen am Hang sah man die erste Kurve des steilen Sträßchens, das Maxi und ich gestern Nacht hinunter- und dann wieder hinaufgeeilt waren. Von dort blinzelte das Silbergrün eines Polizeiwagens durch die Blätter. Auch ein Absperrband flatterte. Und man sah eine Figur in weißem Ganzkörperanzug über die Böschung entschwinden.
»Da unten ist die Stelle, wo gestern Abend Barbaras Herde ausgebrochen ist«, erklärte ich.
»Und da treibt die Kriminaltechnik einen derartigen Aufwand?«
»Das ist wohl eher, weil Maxi dort heute Morgen …« Ich blickte Richard von der Seite an. »Nun, weil sie dort eine Leiche gefunden hat.«
Sein Profil blieb ausdruckslos.
»Ich habe mich davongemacht, ehe die Polizei kam. Ich dachte, es ist besser, wenn ich nicht sogleich wieder unangenehm auffalle. Wahrscheinlich ist es ein tragischer Unfall. Dafür ist Balingen ja prädestiniert«, konnte ich mir nicht verkneifen anzufügen.
Er reagiert nicht.
»Barbaras Herde hat vermutlich einen überrannt, einen Bauernjungen hier aus der Gegend.«
Richards Augen zuckten zu mir herüber. »Wen?«
»Den Sohn eines Bauern aus Stockenhausen.«
»Von Josef Filser?«
Ich nickte. »Maxi meint, es könnte Jannik sein, der Jüngste. Er muss so siebzehn gewesen sein.«
»Dann … dann gnade uns der Himmel!«
»Warum?«
Richard atmete nur. Aber unterhalb von Verstand und Vernunft, in Höhe meiner Schenkel, tippten seine Finger gegen meinen Handrücken und umschlossen gleich darauf meine Hand.
»Lisa!«
»Was ist los, Richard?«
»Ich … ich weiß es nicht. Hilf mir! Ich habe das Gefühl, als würde sich … als würde sich der Boden unter mir … Wie Eisschollen auf einem reißenden Strom. Ich habe … ich habe das Gefühl, als entglitte mir der Boden unter den Füßen.«
»Und das kann schnell gehen bei der Hitze!«
Er versuchte zu lächeln. »Lisa, ich möchte dich um etwas bitten.«
Eine düstere Ahnung
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