Allmachtsdackel
Charme testete, hatten wir solche Frauen Weiße Hexen genannt. Dass ich einmal eine kennen lernen würde, hatte ich nicht zu träumen gewagt, dass sie mich sich einzuverleiben drohen würde, noch weniger, und dass ich es mit einer mein ganzes bisheriges Leben schwärzenden Begierde wollen würde, schon gar nicht.
Jenseits der Müdigkeit war ich im Kabäuschen aufs Lager gefallen, und noch eine ganze Weile hatten Suchbegriffe in meinem Kopf gegoogelt.
Wermut hieß das Kraut, das auch in unseren Breiten wuchs, und Vermouth nannte sich das Gesöff, das eigentlich nur ein gewürzter Wein war und Absinth hieß, wenn es zur Hälfte aus Alkohol bestand. Das Gift der Wermutpflanze hieß Thujon, ein Nervengift, das in geringen Dosen, beispielsweise im Absinth, belebend und anregend wirkte und früher gegen Bandwürmer und zur Abtreibung eingesetzt wurde, denn es erzeugte Leibkrämpfe. Reichlich Thujon befand sich auch in Lebensbäumen, die schon so hießen: Thuja. Der Name kam aus dem Griechischen von thyein, opfern, weil die Griechen das wohlriechende Holz für ihre Brandopfer benutzten. Die Symptome einer Vergiftung beim Menschen: Übelkeit, Durchfall, epileptische Krämpfe, erhöhter Blutdruck, Herzrasen, Fieber, Atemnot, Leberversagen, Lähmung, Atemstillstand.
Ich sah nicht nur Vicky vor mir, wie er sich quittengelb am Boden krümmte, sondern auch die prächtige Leiche von Martinus, den mächtigen Brustkorb, den gewölbten Bauch, die fleischigen Hände mit dem gelblichen Unterton der Haut. Wenn an dieser Leiche für einen Laien eines erkennbar gewesen war, dann das Lebersterben, die gelbe Haut, das Wasser in den Gliedern. Und dieser Trottel von Zittel hatte vor lauter Eitelkeit und Selbstsicherheit die Zeichen falsch gedeutet: Säuferleber. Womöglich auch nicht falsch, womöglich hatte der Leberschaden Martinus’ Giftsterben nur beschleunigt. Das weltweite Netz beantwortete mir allerdings nicht die Frage, wie schnell ein junger Mann wie Vicky nach dem Genuss einer unklaren Menge Thujon in Alkohol mit ersten Symptomen rechnen musste und ob und wie schnell er daran verendete. Aber ich hatte im Krankenhaus Balingen angerufen und so lange die Schwestern durch wochenend- und nachtleere Gänge gescheucht, bis ich Barbara am Ohr hatte, um ihr zu sagen, dass die Ärzte eine Thujonvergiftung erwägen mussten.
Im Licht des Sonntagmorgens schämte ich mich meines Rechercheaktionismus und seiner virtuellen Ergebnisse. Selten hatte ich mich überflüssiger, fremder und alberner gefühlt. Lisa Nerz, du wirst nie erwachsen. Du gehörst nicht in diese Welt. Sie ist zu kompliziert für dich.
Ich stand trotzdem auf. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Der Verband hatte über Nacht etwas gelitten. Was darunter verschorft war, sperrte sich gegen jegliche Krümmung des Knies und riss, als ich es trotzdem versuchte. Engel sangen. Meine Gaspedalfüße, auf denen ich gestern so viel marschiert war, fühlten sich außerdem wie Knochenbrei an. Es war ein Scheißmorgen! Ich hätte gern auf Schnelldurchlauf gedrückt.
Wie lange würde ich brauchen, bis ich Cipións Morgenbegrüßung nicht mehr vermisste, seine despotische Art, Streicheleinheiten zu fordern, sein Gassidrängeln, seine großen Erwartungen an das Leben?
Jürgen saß am Küchentisch auf demselben Stuhl, auf dem er gestern gesessen hatte, und schmierte sich ein Honigbrot auf dem Brettchen von gestern, inmitten der Unordnung von Kaffeebechern, halber Paprika, Messern, Milchtüten, angebissenen Brötchen, alten Zeitungen, Kuhhalftern, Büchern und Krempel.
»Er lebt«, nuschelte er. »Und die Ärzte sind optimistisch. Zumindest sagen sie es. Meine Frau war die ganze Nacht bei ihm. Hat der Lärm Sie geweckt?«
Jürgens dunkle Knopfaugen hatten einen roten Rand. Seine grauen Haare standen wirr in alle Richtungen. Auch wenn das Gesicht des kampferprobten Lehrers und trinkfesten Lokalpolitikers wenig Feinmotorik für Gefühle aufwies, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie er Schwulenwitze erzählte und mich mit dem Schwabenabitur aufs Glatteis führte.
»Wenn Sie meine Frau suchen …«Er deutete hinter sich auf die Tür zum Waschküchengang.
Samanta stand an der Waschmaschine und machte eine lange Nase ins Badezimmer, in dem Barbara zugange war.
Am Kleiderbügel am Duschkopf hing kopfunter der Hase, den wir gestern geschossen hatten. Seine Hinterläufe waren in die Schlingen gehängt. Barbara hatte bereits mit einem kurzen Küchenmesser Haut und Fell in den Innenseiten
Weitere Kostenlose Bücher