Allmachtsdackel
legte ihn schief, wie Cipión, wenn er Mäuse im Gras rascheln hörte. »Ah, da kommt er schon. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, gell?« Sie kicherte. »Sonst sieht er Sie in der Unterwäsche.«
Auch Cipión hatte das Auto erkannt, das hinters Haus rollte. Er rannte aufgeregt in den Flur. Lotte verknotete den Verband. Man hörte einen Schlüssel sich in der Haustür drehen und Cipións Krallentanz auf dem Schmuckparkett.
»Momentle noch, Richard!«, rief Lotte über ihre Schulter. »Wir sind gleich fertig.«
Die Schritte von Ledersohlen auf Parkett stockten nur kurz. Ich zupfte mein T-Shirt über meine Scham. Richard erschien in der Türfüllung. Cipión hatte ihm zwar meine Gegenwart gemeldet, und dann rechnete er gewöhnlich mit allem. Doch offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass seine Mutter meine muskulösen Beine verarztete und meine Unschuld verteidigte.
»Jetzt wart halt«, rief sie, entrüstet aufspringend, »bis die junge Dame angezogen ist!«
Er kam herein, runzelte die Stirn und fragte: »Was ist passiert?«
»Nichts«, sagte ich.
»Die Kinder haben scheint’s nicht aufgepasst mit dem Luftgewehr, aber es ist nur ein Kratzer«, sagte Lotte. »Und nun sei so gut, dreh dich wenigstens um. Du machst das Fräulein noch ganz verlegen.«
»Mama!«
Ich biss mir auf die Lippen. Es war auch gar zu hübsch anzusehen, wie die gebeugte alte Dame mit wackelndem Dutt ihren breitbrüstigen Prachtkerl von Sohn aus dem Salon zu drängen versuchte, und wie er sich behauptete, ohne sich direkt gegen sie zu stellen. Er hätte nur unbedingt vermeiden müssen, mir dabei einen Blick zuzuwerfen in der Tonlage zwischen »Komm du mir heim!« und »Heile, heile Segen!« Denn in meiner Anstrengung, meine Scham zu bedecken und meine Mimik einzutrüben, sah ich wohl derartig schwachsinnig aus, dass er laut herauslachte. Und da ein Schwabe schon verschmerzt hat, was auf dem Tisch steht, teilte er ordentlich aus und lachte, bis ihm die Tränen kamen.
»Wenn wir noch zum Gottesdienst zurechtkommen wollen«, sagte Lotte, »dann müssen wir aber los.«
31
Pfarrer Frischlin liebte Talar und Beffchen. Auch einer, der sich gern verkleidete. Wie er die Hände hob und Gottes Segen auf seine Gemeinde herabflehte, verkörperte er nicht ohne Gefälligkeit den spirituellen Abenteurer, der das Risiko, sich in Gottes Hände zu begeben, für kalkulierbar hielt.
Da unterschieden er und ich uns diametral.
»Gott hat seinen eigenen Sohn geopfert«, predigte er. »Und wie alle Söhne, hat auch Jesus das zunächst nicht verstanden. ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen‹, ruft er in den Evangelien des Matthäus und Markus in der Stunde seines Todes. Was ist das auch für ein Vater, der seinen Sohn für seine Sache einsetzt? Möchten wir nicht unser eigenes Leben leben, selbst entscheiden, für wen oder welche Sache wir uns einsetzen, für wen wir unsere Lebenszeit opfern, für unsere Frau, unsere Kinder oder unsere Karriere?«
In den Bänken der Kirche, die dem Schwabenmissionar im Bistum Konstanz, dem Heiligen Gallus, gewidmet war, saßen deutlich mehr Männer als Frauen. Auch der gezähmte Mann mit den gelöcherten Sommerschuhen hatte uns aus seiner Bank heraus beflissen zugenickt.
»Das Neue Testament«, sagte Frischlin, »erzählt von einem alltäglichen und dabei so dramatischen Vater-Sohn-Konflikt. Alles, was er ist und kann, hat Jesus von seinem Vater. Aber gibt das seinem Vater das Recht, ihn einzuspannen für seine Sache und seinen Tod zu beschließen?«
Lotte hat den Kopf schief gelegt und den Blick in die sinnentleerte Ferne gerichtet. Wie viele Predigten, die der Pfarrer nicht für sie hielt, hatte sie wohl schon über sich ergehen lassen? Was in Richard vorging, konnte ich nicht einmal ahnen, denn er saß auf der anderen Seite neben seiner Mutter.
»Wo ist der Flachmann?«, hatte er sich wispernd bei mir erkundigt, als wir in der Halle des Weber’schen Hauses auf Lotte warteten, die ihre Handtasche holte und den Sitz ihres Dutts überprüfte.
»Jürgen hat ihn zur Polizei gebracht«, hatte ich geflüstert. »Aber Vicky war gestern Nachtmittag womöglich auch noch bei Frischlin.«
»Die geistigseelische Entwicklung«, sprach der Pfarrer, »die Jesus in diesem Konflikt durchgemacht hat, offenbaren uns die vier Evangelien. Während Jesus sich bei Matthäus und Markus am Kreuze …«
Man beachte das Dativ-E, das heute nur noch in meinen alten Karl-May-Ausgaben aus dem Antiquariat und in
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