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Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Titel: Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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heimgezahlt.
    Sie waren quitt.
    Die Gedanken an diesen Moment ließen seinen Puls wieder rasen. Er bemühte sich, ruhig zu atmen. Wollte jetzt kurz vor der Trauung nicht an das alte Schwein denken. Spürte die Hand von Agnes auf der Schulter.
    Er ging langsam zu dem kleinen improvisierten Altar hinüber. Weiße Blüten rankten links und rechts von dem Tisch, auf dem eine weiße Spitzendecke lag, herunter. Schleifen zierten auch die Stühle für die Gäste.
    Weiches Spätsommerlicht. Es roch nach frisch geschnittenem Gras.
    Liz und er hatten das Hotel mit dem hübschen Garten bei einem gemeinsamen Frühstück entdeckt. Es war ihr erstes Date gewesen.
    Die wenigen Gäste hatten auf den schlanken Rattan-Stühlchen Platz genommen. Larry Greenblatt klopfte ihm auf die Schulter. Er war sein Trauzeuge. Alfie stand grinsend neben Larry. Auf der anderen Seite Liz’ Cousine Jane und ihre Freundin Roslyn. Brautjungfern in blassrosa Kleidern. Aufmunterndes Lächeln stand in ihren Gesichtern.
    Tim schaute durch sie hindurch. Zupfte sich nervös am Ärmel des neuen Anzugs.
    Die Musik setzte ein. Er bemerkte den aufmunternden Blick von Liz’ Bruder. John. Sanftmütig wie seine Schwester. Niemals würden sie seine tiefe Wut verstehen. Den Hass, der seine Schläfen pulsieren ließ, kannten sie nicht. Er nickte John zu, bemühte sich, zu lächeln. Pachelbel Kanon. Gleich würden sie getraut.
    Der Alte dreht den Kopf.
    Bis dass der Tod euch scheidet.
    Blut tropft ihm aus dem Mundwinkel.
    Für immer und ewig sich einander versprechen.
    Sein Gesicht schweißnass, schmerzverzerrt. »Verpiss dich!«
    Er schloss die Augen und versuchte, sich zu sammeln. Als er sie wieder öffnete, schwebte ihm Liz am Arm ihres Vaters entgegen. Er dachte an eine Porzellanfigur, als er sie sah.

22
    Aus der Küche hörte er sein Handy einige Male klingeln. Ignorierte ein Klingeln an der Haustür, später ein zaghaftes Klopfen am Küchenfenster.
    Alles konnte warten, alles hatte Zeit.
    Er genoss es, in seinem Kopf spazieren zu gehen, auch wenn die Erinnerungen schmerzhaft waren.
    Der Sessel nahm ihn auf. Die Zeit verging langsam, dann wieder schneller.
    Er war ungefähr acht. Es war ein grauer Spätherbsttag. Auf einem harten Acker in Jasper. Windböen jaulten und wirbelten trockenes Heu auf.
    Sein aufgeregter Atem stieg als weißer Dampf auf, wenn es kurz windstill wurde. Seine Hände rot vor Kälte. Der Vater hockte vor ihm, rollte ein langes Stück Schnur von einer Spule ab. Weißes, dickes Garn. Gab ihm den grünroten Drachen zu halten. Das dünne Pergamentpapier zitterte im Wind. Er hielt den Rahmen mit beiden Händen fest. Er hatte Angst, den Drachen zu früh fliegen zu lassen. Der Vater war konzentriert. Auf seinem kleinen Kopf die braune Kordkappe, die er immer im Herbst und Winter trug. Im Mundwinkel glühte die Zigarette.
    Der Wind blies Tim den Rauch ins Gesicht. Nicht husten jetzt. Der Vater stand auf, strich ihm über den Kopf. »Alles klar? Du hältst fest, wenn ich dir ein Zeichen gebe, läufst du auf mich zu, verstanden?«
    Eifrig nickte er. Er sah den Vater mit großen Schritten dem Wind entgegengehen, in schwarzen Gummistiefeln. Die Schnur begann sich zu spannen. Der Vater winkte und rief. Sie rannten beide los. Der Wind frischte auf. Der Drachen löste sich aus seiner Hand und stieg steil auf in den Himmel. Das Papier ratterte im Wind. Grün-rotes Pergament vor grauer Leinwand. Er juchzte, blickte dem Drachen hinterher, wie er immer höher hinauf in den Himmel tanzte. Auch der Vater lachte und rief.
    Natürlich hatte es auch schöne Momente gegeben. Gesten, Gemeinsamkeiten.
    Aber Tim konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann genau das aufgehört hatte. Der Alte war irgendwann verhärtet. Vielleicht durch den harten Alltag, die Arbeit in der Fabrik, das immer graue Jasper.
    Mit dem Trinken war alles schlimmer geworden, der Zerfall hatte begonnen, den Vater zu rauben.
    Seine Erinnerungen kehrten wieder in eine andere Zeit zurück. Alles schien sich auf dieses eine Jahr zu konzentrieren. 2005? Er wusste es nicht genau.
    Das Jahr, in dem der Screensaver entstanden war?
    Ende Juli. Grelle Sonne knallte auf die fest verschlossene Terrassentür. Die Luft sirrte. Er lag in Boxershorts auf der Couch. Die Aircondition war voll aufgedreht. Es war fast zu kalt im Haus.
    Er schaute Golf im Fernsehen. »British Open«. Liz war übers Wochenende mit einer Freundin weggefahren. Er hatte auf einen Grillabend mit Peter gehofft, aber Doreen erzählte ihm,

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