Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
wann der Verkehr in der Stadt endgültig zusammenbrechen wird. Und immer wieder werden Pläne geschmiedet, wie der unvermeidliche Kollaps doch noch aufzuhalten ist. Gerüchteweise überliefert ist dabei die Geschichte einer französischen Beratungsfirma für Stadt- und Verkehrsplanung, die den Auftrag erhalten hatte, ein Jahr lang Kairos Verkehrsströme zu studieren und mit praktikablen Lösungen aufzuwarten. Das mit Spannung erwartete Ergebnis: Die Firma kam zu dem Schluss, dass es an ein Wunder grenzt, dass der Verkehr in Kairo überhaupt noch fließt und dass jede Intervention verheerende Folgen nach sich ziehen könnte.
Das mit dem Fließen wird allerdings immer zäher. Meist kommt man nur im Schneckentempo voran, oft kommt der Fluss inzwischen auch ganz zum Erliegen. Beispielsweise wenn ein „Abu Muhim“, zu Deutsch ein „Vater der Wichtigkeit“, beschlossen hat, zur gleichen Zeit zur Arbeit zu fahren wie man selbst. Nicht nur für den Präsidenten, auch für seine Ministerriege, den Bürgermeister oder selbst den Chef der Verkehrspolizei, der eigentlich von Amts wegen für den reibungslosen Ablauf des Verkehr sorgen sollte, werden zeitweise ganze Straßenzüge gesperrt. Damit die Herren ohne Verzögerungen zu ihrem Ziel kommen, muss das gemeine Volk eben warten.
Letzteres sorgt aber gerne auch selbst für Engpässe, indem es seine Fahrzeuge in der zweiten oder dritten Reihe parkt. Doch da finden die fantasievollen Kairoer Autofahrer immer wieder einfallsreiche Mittel und Wege, sich doch noch irgendwie am Vordermann vorbeizudrücken, sei es auf der eigenmächtig eröffneten Spur jenseits und zwischen den Markierungen, am Gehweg oder notfalls auch auf der Gegenfahrbahn. Kairos Verkehr ist nicht so sehr die Ansammlung der Bewegung unzähliger Autos – er gleicht eher einer überwältigenden Naturgewalt.
Dort zu fahren will gelernt sein. Derweil sind Fahrschulen in Ägypten eher die Ausnahme. Trotzdem schaffen, laut ägyptischen Medienberichten, neun von zehn Ägyptern die offizielle Fahrtauglichkeitsprüfung gleich im ersten Durchlauf. Oft ist der Führerschein gekauft oder die Familie hat einen Bekannten bei der Verkehrspolizei, der die Angelegenheit mit ein paar Telefonaten regelt. Nach den ersten Anfangschwierigkeiten auf Kairos freier Verkehrswildbahn haben sie es ohnehin geschafft. Wer hier unfallfrei fährt, schafft es überall auf der Welt. Wobei die eigenwillige ägyptische Fahrweise und der chaotische Verkehr in Kairo, entgegen der landläufigen Meinung, in der Region durchaus noch ernsthafte Konkurrenten haben, wie ein leidgeprüfter reisender Nahost-Korrespondent bezeugen kann.
Mit Abstand am brutalsten wird in Teheran chauffiert. Zu den Stoßzeiten liefern sich die Fahrer ein leidenschaftlich ausgetragenes Rennen: Die Fahrzeuge werden auf wenigen Metern hochtourig von null auf hundert gebracht und Sekunden später kurz vor der Stoßstange des Vorderautos abrupt abgebremst. Der Iran führt mit 28 000 Todesfällen und 270 000 Verletzten im Jahr die weltweite Unfallstatistik an. Und die ist Chefsache. „Unsere Unfallrate ist unter unserer Würde und muss reduziert werden“, meinte dazu der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Und der sollte wissen, wovon er spricht, besitzt er doch einen Doktor in Verkehrsmanagement.
Doch auch im kleinen Libanon steht man dem kaum nach. In schicken, meist noch abzuzahlenden Autos hat sich die aggressive Milizfahrweise aus Bürgerkriegszeiten schon längst auf die nächste Generation vererbt. Übrigens sind die bevorzugten Automarken der Hisbollahkämpfer über all die Jahre der robuste, kastenförmige Volvo Kombi oder ältere Modelle aus der Produktion der Bayerischen Motorenwerke geblieben. Weswegen man als Journalist bei Recherchen in den Hisbollah-Hochburgen des Südlibanon und der Bekaa-Ebene auffällig häufig diese Fahrzeugtypen im Rückspiegel findet. Schließlich will die Hisbollah wissen, was man so treibt.
Dagegen hatten Palästinenser im Westjordanland ihre ganz eigene Art, im Verkehr Widerstand gegen die israelischen Besatzungstruppen zu leisten. „Warum schnallst du dich an?“, fragt mich der palästinensische Taxifahrer perplex. „Der nächste israelische Checkpoint liegt doch noch ein paar Kilometer entfernt!“ Die Besatzer im Kleinen zu überlisten war immer eine der Überlebensstrategien für die palästinensische Psyche. Da wird das Anschallen außer Sichtweite der israelischen Armee schnell als verdächtiger Akt freiwilliger
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