Allwissend
dieses Viertel aus kleinen Geschäften und noch kleineren Wohnungen, das im Volksmund New Monterey hieß, wie eine Miniaturausgabe von Haight-Ashbury gewirkt hatte, gelegen zwischen einer geschäftigen Garnisonsstadt und einem religiösen Schlupfwinkel. (Der Lovers Point von Pacific Grove war nach der Liebe zu Jesus benannt, nicht nach der zu einem anderen Menschen.) Heutzutage sah es hier so aus wie an jeder beliebigen Einkaufsstraße in Omaha oder Seattle.
Die Lighthouse Arcade war dunkel und schäbig und roch, nun ja, »gamelig« - er konnte es kaum erwarten, Dance an diesem Wortspiel teilhaben zu lassen.
Der Anblick war unwirklich. Die Spieler - hauptsächlich Jungen - saßen an Computerterminals, starrten auf die Bildschirme und hatten Joysticks in den Händen oder hämmerten auf Tastaturen herum. Die Spielstationen besaßen hohe gewölbte Wände, die mit schwarzer Schalldämmung ausgekleidet waren, und als Sitzgelegenheiten standen bequeme Ledersessel mit hohen Rückenlehnen zur Verfügung.
Es gab hier alles, was ein junger Mann sich für seine digitalen Erfahrungen nur wünschen konnte. Neben den Computern und Tastaturen wurden Headsets und Mikrofone angeboten, Touchpads, Eingabegeräte wie Lenkräder und Steuerknüppel, 3-D-Brillen sowie alle denkbaren Anschlussmöglichkeiten: Strom, USB, Firewire, Audio, Video und auch obskurere Kandidaten. An manchen Stationen waren Wii-Konsolen installiert.
Boling hatte einen Aufsatz über den neuesten Spieletrend aus Japan verfasst: künstliche Kokons, in denen die Kids stundenlang in dunkler, vollständig von der Außenwelt getrennter Abgeschiedenheit saßen, um Computerspiele zu spielen. Es schien die logische Entwicklung für ein Land zu sein, das für das Phänomen der hikikomori oder »Zurückziehung« bekannt war, ein immer mehr um sich greifender Lebensstil, bei dem junge Leute, zumeist Jungen oder Männer, zu Einsiedlern wurden und monate- oder gar jahrelang ihre Wohnungen nicht mehr verließen, sondern ausschließlich mittels ihrer Computer lebten.
Der Lärm in der Lighthouse Arcade war irritierend: eine Kakophonie aus digital erzeugten Geräuschen - Explosionen, Schüssen, Tierschreien, schaurigem Kreischen und Gelächter -, vermischt mit einer Unmenge nicht zu unterscheidender menschlicher Stimmen, die über ihre Mikrofone mit Gleichgesinnten rund um den Globus sprachen. Antworten dröhnten aus den Lautsprechern. Vereinzelte heisere Aufschreie und Flüche zeugten von verzweifelten Spielern, die soeben ihr digitales Leben verloren oder einen taktischen Fehler begangen hatten.
Spielhallen wie diese gab es tausendfach in aller Welt. Sie waren die letzten Vorposten der Realität, genau an der Grenze zum synthetischen Universum.
Bolings Mobiltelefon vibrierte. Er sah auf das Display. Irv, sein studentischer Mitarbeiter, hatte ihm eine SMS geschickt: Stryker hat sich vor fünf Minuten in DQ eingeloggt!.
Boling sah sich erschrocken um. War Travis etwa hier? Wegen der Nischen konnte man immer nur ein oder zwei Stationen gleichzeitig überblicken.
Am Tresen saß ein langhaariger Angestellter, dem der Lärm nichts auszumachen schien; er las einen Science-Fiction-Roman. Boling ging zu ihm. »Ich suche nach einem Jungen, einem Teenager.«
Der Mann hob belustigt eine Augenbraue. Ich suche im Wald nach einem Baum. »Ja?«
»Er spielt DimensionQuest. Haben Sie vor etwa fünf Minuten jemanden freigeschaltet?«
»Es gibt keine Freischaltung von Hand. Die Spieler kaufen sich Spielmarken und übernehmen das selbst. Die Marken gibt's hier oder am Automaten.« Er musterte Boling argwöhnisch. »Sind Sie sein Vater?«
»Nein. Ich will ihn bloß finden.«
»Ich kann bei den Servern nachsehen und herausbekommen, ob jemand gerade DQ spielt.« »Wirklich?« »Ja.« »Prima.«
Aber der Mann machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen; er starrte Boling einfach nur aus einem Rahmen aus fettigen Haaren an.
Ach so. Alles klar. Wir verhandeln. Super. Wie ein echter Privatschnüffler, dachte Boling. Gleich darauf verschwanden zwei Zwanzigdollarscheine in den Taschen der ungewaschenen Jeans des Mannes.
»Sein Avatar heißt Stryker, falls Ihnen das weiterhilft«, sagte Boling.
Ein Grunzen. »Bin gleich wieder da.« Er ging quer durch den Saal davon. Boling sah ihn am anderen Ende wieder auftauchen und das Büro ansteuern.
Fünf Minuten später kam er zurück.
»Ein Kerl namens Stryker, ja, der spielt DQ. Hat sich eben erst eingeloggt. Station dreiundvierzig. Da
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