Allwissend
>Arzt< in irgendeiner Fremdsprache.«
»Latein«, sagte Boling. »Wie im alten Rom?«, fragte Jason. »Genau.«
»Cool. Jedenfalls, Travis' andere Berufe sind Kräuterkundler und Arzneimischer. Hierher kommen die Leute, um sich behandeln zu lassen. Es ist wie eine Arztpraxis.«
»Ein Arzt?«, grübelte Dance. Sie stand auf, ging zu dem Stapel Papiere, den sie aus Travis' Zimmer mitgenommen hatten, und blätterte ihn durch. Rey Carraneo hatte recht - die Bilder zeigten aufgeschnittene Körper. Aber das waren nicht die Opfer von Verbrechen, sondern Patienten während einer Operation. Die Zeichnungen waren sehr detailliert ausgeführt, technisch korrekt.
»Die Patienten kommen aus ganz Aetheria zu ihm«, fuhr Jason fort. »Sogar die Entwickler des Spiels kennen ihn und haben ihn um Rat bei der Erschaffung von NSC gebeten. Er ist voll die Legende. Mit der Herstellung von Heiltränken, Buffs, Lebensregeneratoren und Kraftzaubern hat er Tausende von Dollar verdient.« »In echtem Geld?«
»Aber ja. Er verkauft sie bei eBay. So wie er Stryker an mich verkauft hat.«
Dance dachte an die Kassette, die sie unter dem Bett des Jungen gefunden hatten. So war er also zu dem vielen Bargeld gekommen.
Jason wies auf den Bildschirm. »Oh, und sehen Sie das?« Er meinte einen Glaskasten, in dem ein goldener Stab mit einer Kristallkugel am Ende lag. »Das ist das Zepter der Heilung. Er musste an die fünfzig Aufträge erfüllen, um es sich zu verdienen. Das ist in der Geschichte von DQ vor ihm noch niemandem gelungen.« Jason verzog das Gesicht. »Einmal hätte er es fast verloren...« Seine Miene wirkte ehrfürchtig. »Das war vielleicht eine chaotische Nacht.«
Der Junge klang, als hätte es sich um einen tragischen Vorfall im echten Leben gehandelt.
»Was meinen Sie damit?«
»Nun, Medicus und ich und noch ein paar Leute aus unserer Familie waren im Südgebirge unterwegs. Die Gipfel da sind bis zu fünf Kilometer hoch und echt gefährlich. Wir haben einen magischen Baum gesucht. Den Baum des Sehens, so heißt er. Und, das war voll cool, wir haben das Haus von Ianna gefunden, der Elfenkönigin, von der alle schon gehört, aber sie noch nie gesehen haben. Sie ist total berühmt.«
»Sie ist ein NSC, nicht wahr?«, fragte Boling.
»Ja.«
»Ein Nichtspielercharakter«, erinnerte er Dance. »Die werden vom Spiel selbst erschaffen.«
Jason schien sich durch die Beschreibung beleidigt zu fühlen. »Aber der Algorithmus ist fantastisch! Sie ist besser als jeder Bot, den Sie je gesehen haben.«
Der Professor nickte entschuldigend.
»Also, wir sind gerade bei ihr und sitzen herum und reden, und sie erzählt uns vom Baum des Sehens und wie wir ihn finden können, und urplötzlich fällt dieser Trupp der Nordallianz über uns her. Alle kämpfen, und da schießt so ein Arschloch einen speziellen Pfeil auf die Königin ab. Sie liegt im Sterben. Travis versucht, sie zu retten, aber seine Heilkunst schlägt nicht an. Also beschließt er zu shiften. Wir anderen rufen: >He, Mann, mach das nicht!< Aber er hat es trotzdem gemacht.«
Der Junge erzählte mit solcher Begeisterung, dass Dance sich unwillkürlich vorbeugte und ihr Knie vor Anspannung wippte. Auch Boling lauschte ganz gebannt.
»Was ist das, Jason? Reden Sie weiter.«
»Okay, es ist... also Folgendes: Manchmal, wenn jemand stirbt, kann man das eigene Leben den Höheren Wesenheiten darbieten. Das nennt man Shifting. Und dann ziehen die Wesenheiten deine Lebenskraft ab und übertragen sie an den Sterbenden. Unter Umständen kann die Person gerettet werden, bevor deine Lebenskraft aufgebraucht ist. Es könnte aber auch sein, dass dein Vorrat nicht ausreicht und ihr beide sterbt. Wenn man aber stirbt, weil man geshiftet hat, verliert man alles. Ich meine, wirklich alles, was du gelernt und erworben hast, all deine Punkte, all deinen Besitz, all deine Reputation seit dem Tag, an dem du mit dem Spiel angefangen hast. Es löst sich einfach alles in Luft auf. Falls Travis gestorben wäre, hätte er das Zepter verloren, sein Haus, sein Gold, seine fliegenden Pferde... Er hätte wie ein Newbie ganz von vorn anfangen müssen.«
»Er ist ein solches Risiko eingegangen?«
Jason nickte. »Es war verdammt knapp. Er hatte kaum noch Lebenskraft. Aber die Königin ist wieder aufgewacht und hat ihn geküsst. Das war einfach unglaublich! Und dann haben die Elfen und wir uns zusammengetan und den Trupp der Nordallianz niedergemacht. Mann, das war eine irre Nacht. Ein triumphaler Sieg. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher