Allwissend
Militärgeistlicher, den das Gemetzel an der Front Demut gelehrt hatte. Seine Frau war bei ihm.
»Alles in Ordnung?«, fragte Dance.
»Ja, es geht schon. Vielen Dank. Er hat ein paarmal zugeschlagen. Bloß Prellungen und Platzwunden.«
Patrizia Chilton sagte, auch sie sei nicht ernstlich verletzt worden.
O'Neil nickte ihnen zu. »Wer war er?«, fragte er Chilton.
»Anthony Schaeffers Bruder«, antwortete Dance.
Chilton war sichtlich überrascht. »Woher wissen Sie das?«
Sie verriet O'Neil, wie Ashtons richtiger Name gelautet hatte. »Das ist das Interessante am Internet - diese Rollenspiele und künstlichen Welten. Wie Second Life. Man kann sich eine völlig neue Identität erschaffen. Schaeffer hat die letzten Monate darauf verwandt, den Namen >Greg Ashton< als vermeintlichen Blog- und RSS-Experten online publik zu machen. Er wollte auf diese Weise Zugang zu Chilton bekommen.«
»Sein Bruder Anthony wurde vor einigen Jahren von mir in einem Blog geoutet«, erklärte Chilton. »Ich habe Agent Dance bei unserem ersten Treffen von ihm erzählt. Es tut mir bis heute leid, dass er sich umgebracht hat.«
»Wie bist du auf den Mann gekommen?«, wandte O'Neil sich an Dance.
»TJ und ich haben uns die Verdächtigen näher angesehen. Arnold Brubaker war als Täter unwahrscheinlich. Clint Avery -der Mann hinter dem Highway-Projekt - kam für mich weiterhin in Betracht, aber wir hatten noch nichts Konkretes. Also habe ich mir die Liste derjenigen vorgenommen, die James Drohungen geschickt haben.«
Die kleinere Hälfte...
»Anthony Schaeffers Frau stand auf der Liste«, sagte Chilton. »Na klar. Sie hat mir vor ein paar Jahren gedroht.«
»Ich bin online gegangen, um so viel wie möglich über sie herauszufinden«, fuhr Dance fort. »Dabei bin ich auch auf die Hochzeitsfotos der Frau gestoßen. Der Trauzeuge war Greg, Anthonys Bruder. Ich habe ihn wiedererkannt, denn ich bin ihm bei meinem Besuch hier begegnet. Also habe ich ihn überprüft. Er ist vor etwa zwei Wochen angereist, mit einem offenen Rückflugticket ohne Datum.«
Dance hatte daraufhin sofort versucht, Miguel Herrera zu erreichen. Als es ihr nicht gelang, hatte sie Rey Carraneo hergeschickt, der immer noch Clint Avery beschattete und sich nicht weit von Chiltons Haus befand.
»Hat Schaeffer etwas über Travis gesagt?«, fragte O'Neil.
Dance zeigte ihm den Klarsichtumschlag mit der handgeschriebenen Erklärung, die so klang, als wäre Travis ihr Verfasser gewesen.
»Glaubst du, er ist tot?«
O'Neil und Dance sahen sich an. »Ich gehe nicht davon aus«, sagte sie. »Am Ende hätte Schaeffer den Jungen natürlich umgebracht. Doch vielleicht war es noch nicht so weit. Er könnte beabsichtigt haben, weitere Nachforschungen zu unterbinden und es so aussehen zu lassen, als hätte Travis nach dem Mord an Chilton Selbstmord begangen. Das wiederum heißt, der Junge könnte noch am Leben sein.«
Der Senior Deputy erhielt einen Anruf. Er trat ein Stück zur Seite, und sein Blick schweifte zu dem Streifenwagen, in dem Herrera so rücksichtslos umgebracht worden war. Nach wenigen Sätzen unterbrach er die Verbindung. »Ich muss los und einen Zeugen vernehmen.«
»Du? Vernehmen?«, scherzte sie. Michael O'Neils Verhörtechnik bestand darin, sein Gegenüber böse anzustarren und es wieder und wieder aufzufordern, sein Wissen preiszugeben. Er hatte damit sogar bisweilen Erfolg, aber es war nicht effizient. Und O'Neil mochte es auch nicht besonders.
Er sah auf die Uhr. »Könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun?«
»Na klar.«
»Annes Flug aus San Francisco hat Verspätung. Ich kann diese Vernehmung nicht aufschieben. Könntest du die Kinder von der Tagesstätte abholen?«
»Sicher. Ich hole nachher ohnehin Wes und Maggie ab.«
»Treffen wir uns um siebzehn Uhr am Fisherman's Wharf!«
»Kein Problem.«
O'Neil machte sich auf den Weg, nicht ohne einen weiteren finsteren Blick auf Herreras Wagen.
Chilton nahm die Hand seiner Frau. Dance wusste, wie Menschen sich verhielten, die knapp dem Tod entronnen waren. Sie musste an den arroganten, selbstgerechten Kreuzritter denken, der Chilton bei ihrem ersten Treffen gewesen war. Er hatte sich sehr verändert. Sie erinnerte sich, schon einmal etwas von seiner weichen Seite gesehen zu haben - nachdem er erfahren hatte, dass sein Freund Don Hawken und dessen Frau beinahe ermordet worden wären. Nun hatte es erneut eine Veränderung gegeben, weg von dem starren Antlitz des Mannes mit der Mission.
Chilton
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