Allwissend
bei seiner Geschichte recht geschickt angestellt, aber gewisse Anmerkungen und Verhaltensweisen hatten ihn verraten. Zunächst schöpfte Dance Verdacht wegen des verbalen Inhalts - wegen dem, was er sagte, nicht so sehr wegen der Art, wie er es sagte. Manche seiner Angaben klangen zu unglaubhaft, um wahr zu sein. Die Behauptung, er habe nicht gewusst, wer der Junge war, und noch nichts von dem Kreuz-Fall gehört - wo er doch regelmäßig online zu gehen schien, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. Die Behauptung, Travis habe ein Kapuzenshirt getragen, wie es mehrfach im Chilton Report zu lesen stand, aber sich nicht an die Farbe erinnern zu können - während Leute sich im Allgemeinen viel eher die Farbe als das eigentliche Kleidungsstück merken.
Außerdem hatte Pfister häufige Pausen eingelegt - wie Lügner es tun, um sich glaubwürdige Geschichten auszudenken. Und er hatte mindestens eine veranschaulichende Geste vollführt - der Finger an der Kehle. Leute machen dies unbewusst, um falsche Angaben zu bekräftigen.
Nachdem also Dances Argwohn geweckt war, wendete sie eine sehr direkte Technik an, um ihre Vermutung zu bestätigen: Sie ließ sich die Geschichte ein zweites Mal erzählen. Wenn jemand die Wahrheit sagt, wird er vielleicht ein wenig vom Wortlaut der ersten Version abweichen oder sich an weitere Einzelheiten erinnern, aber die zeitliche Abfolge der Ereignisse bleibt stets gleich. Ein Lügner hingegen vergisst oft, in welcher Reihenfolge er manche der erfundenen Details beschrieben hat. So war es auch bei Pfister gewesen, sobald er die Geschichte für O'Neil wiederholen sollte: Er kam durcheinander, als es um den Zeitpunkt ging, an dem der Junge das Kreuz angeblich aufgestellt hatte.
Und während ehrliche Zeugen die zweite Schilderung durchaus durch zusätzliche Fakten ergänzen können, kommt es dabei nur selten zu Widersprüchen. Pfister hatte anfangs gesagt, Travis habe geflüstert, sodass er die Worte nicht habe hören können. Beim zweiten Mal hieß es plötzlich, er habe die Worte nicht verstehen können, aber sie hätten »unheimlich« geklungen, was beinhaltete, dass er sie doch gehört hatte.
Dance kam zu dem eindeutigen Schluss, dass Pfister die Geschichte erfunden hatte.
Unter anderen Umständen hätte Dance die weitere Befragung subtiler durchgeführt und den Zeugen dazu verleitet, die Wahrheit preiszugeben. Doch dies war ein Mann, dessen Lügnerpersönlichkeit - sie hielt ihn für einen Geselligkeitslügner - und zweifelhafte Einstellung ein langes, kraftraubendes Verhör erfordern würden, um ans Ziel zu gelangen. Die Zeit hatte sie nicht. Das zweite Kreuz mit dem heutigen Datum bedeutete, dass Travis womöglich genau in diesem Moment den nächsten Überfall plante.
»Nun, Ken, Sie stehen mit einem Bein im Gefängnis.«
»Was? Nein!«
Dance hatte nichts gegen ein wenig Verstärkung einzuwenden. Sie schaute zu O'Neil. »Aber sicher, was denken Sie denn?«, sagte er. »Und wir benötigen die Wahrheit.«
»Oh, bitte. Hören Sie...« Aber er hatte nichts anzubieten. »Ich hab nicht gelogen! Wirklich. Alles, was ich Ihnen erzählt habe, ist wahr.«
Das war nicht dasselbe, als hätte er versichert, tatsächlich alles mit eigenen Augen gesehen zu haben. Warum nur hielten die Schuldigen sich immer für so clever?
»Waren Sie Zeuge der beschriebenen Vorgänge?«, fragte Dance.
Unter ihrem bohrenden Blick wandte Pfister das Gesicht ab. Seine Schultern sackten herab. »Nein. Aber es ist alles wahr. Ich weiß es!«
»Wie können Sie?«, fragte sie.
»Weil ich gelesen habe, dass jemand ihn bei dem beobachtet hat, was ich Ihnen erzählt habe. In diesem Blog, dem Chilton Report.«
Sie sah O'Neil an. Seine Miene war genauso fassungslos wie ihre. »Warum haben Sie gelogen?«, fragte sie.
Er hob die Hände. »Ich wollte den Leuten die Gefahr bewusst machen. Ich dachte, die Menschen sollten vorsichtiger sein, solange dieser Psychopath frei herumläuft. Sie sollten Vorkehrungen treffen, vor allem im Hinblick auf ihre Kinder. Wissen Sie, wir müssen doch auf unsere Kinder aufpassen.«
Dance registrierte die Geste, hörte das leichte Stocken der Worte. Inzwischen kannte sie sein charakteristisches Lügnerverhalten. »Ken? Wir haben für so etwas keine Zeit.«
O'Neil nahm seine Handschellen vom Gürtel.
»Nein, nein, ich...« Er gab auf. Sein Kinn senkte sich auf die Brust. »Ich habe einige schlechte geschäftliche Entscheidungen getroffen. Meine Kredite wurden gekündigt, und ich kann
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