Allwissend
Wald voller Kiefern, Straucheichen, Eukalyptus- und Ahornbäume sowie dichtem Unterholz. Kathryn passierte die Absperrung der Polizei und ignorierte die Reporter und Kamerateams. Sind die wegen des Verbrechens oder wegen meiner Mutter hier?, dachte Dance zynisch.
Sie parkte, grüßte die Deputys und gesellte sich zu Michael O'Neil. Gemeinsam gingen sie zu dem abgesperrten Teil der Böschung, wo das zweite Kreuz gefunden worden war.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte O'Neil.
»Nicht gut.«
Dance war unglaublich froh, ihn zu sehen. Einen Moment lang wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt und bekam kein Wort mehr heraus, als das Bild ihrer Mutter in Handschellen und die Erinnerung an den Streit mit der Sozialarbeiterin in ihr aufstiegen.
O'Neil musste unwillkürlich lächeln. »Ich hab dich im Fernsehen gesehen.« »Im Fernsehen?«
»Wer war diese Frau, die wie Oprah ausgesehen hat? Du hättest sie beinahe festgenommen.«
Dance seufzte. »Das wurde gefilmt?«
»Du hast« - er suchte nach einem Wort - »eindrucksvoll gewirkt.«
»Sie wollte die Kinder zum Jugendamt mitnehmen.« O'Neil sah sie ungläubig an.
»Es war einer von Harpers Winkelzügen«, fuhr Dance fort. »Aber seine Marionette wäre fast verhaftet worden. Oh, wie gern hätte ich ihm eine reingewürgt. Übrigens, ich hab Sheedy als Verteidiger engagiert.«
»George? Gut. Ein zäher Hund. Genau das, was ihr jetzt braucht.«
»Ach, und außerdem hat Overby diesem Harper Zugang zum CBI gewährt. Damit er meine Akten durchgehen kann.« »Nein!«
»Ich glaube, er wollte überprüfen, ob ich im Fall Juan Miliar Beweise unterschlagen oder die Aufzeichnungen frisiert habe. Overby hat gesagt, er habe auch eure Akten kontrolliert.«
»Die vom MCSO?«, fragte O'Neil. Seine Wut war für Dance so offensichtlich wie eine rote Signalfackel. »Hat Overby gewusst, dass Harper gegen Edie ermittelt?«
»Ich weiß es nicht. Er hätte sich zumindest fragen müssen: Wieso, zum Teufel, schnüffelt dieser Kerl aus San Francisco in unseren Akten herum? >Beurteilung der Fallzahlen.< Dass ich nicht lache.« Ihr eigener Zorn flammte wieder auf, und nur mit Mühe schaffte sie es, sich zusammenzureißen.
Sie erreichten die Stelle, an der ein kurzes Stück abseits der Fahrbahn das Kreuz steckte. Die vermeintliche Gedenkstätte sah so aus wie die erste: abgebrochene Zweige, verschnürt mit Blumendraht, und ein Pappschild mit dem Datum von heute.
Davor lag ein Strauß roter Rosen.
Wessen Ermordung verbirgt sich dahinter?, fragte sich Dance. Und zehn Sträuße hat er noch.
Die schlecht gepflasterte Straße hier lag versteckt und etwa anderthalb Kilometer vom Wasser entfernt. Sie war wenig befahren und stellte eine kaum bekannte Abkürzung zum Highway 68 dar. Ironischerweise würde sie auch zu der neuen Schnellstraße führen, über die Chilton in seinem Blog geschrieben hatte.
Unweit des Kreuzes wartete in einer Nebenstraße der Zeuge, ein Geschäftsmann Mitte vierzig, vom Aussehen her ein Immobilien- oder Versicherungsmakler, schätzte Dance. Er trug ein blaues Anzughemd, und sein stattlicher Bauch ragte weit über den arg strapazierten Gürtel hinaus. Sein Haaransatz hatte sich merklich nach hinten verlagert, und sie sah Sommersprossen auf seiner runden Stirn und der Halbglatze. Er stand neben einem Honda Accord, der auch schon bessere Tage gesehen hatte.
Dance und O'Neil gingen zu ihm.
»Das ist Ken Pfister«, stellte der Deputy ihn vor.
Sie gab ihm die Hand. O'Neil sagte, er wolle die Arbeit der Spurensicherung überwachen, und ging auf die andere Straßenseite.
»Bitte erzählen Sie mir, was Sie beobachtet haben, Mr. Pfister.« »Travis. Travis Brigham.« »Sind Sie sicher?«
Ein Nicken. »Ich habe vorhin beim Essen online sein Bild gesehen und ihn wiedererkannt.«
»Würden Sie mir bitte genau den Ablauf schildern?«, bat Dance. »Wann ist das gewesen?«
»Es war gegen elf heute Vormittag. Ich hatte davor einen Termin in Carmel. Ich leite eine Versicherungsagentur.« Er klang stolz.
Richtig getippt, dachte sie.
»Gegen zehn Uhr vierzig bin ich aufgebrochen und wollte zurück nach Monterey. Ich hab diese Abkürzung genommen. Wenn erst mal der neue Highway da ist, wird es noch schneller gehen, meinen Sie nicht auch?«
Sie lächelte unverbindlich. Es war eigentlich kein richtiges Lächeln.
»Dann bin ich in diese Nebenstraße hier abgebogen« - er vollführte eine ausholende Geste -, »um ein paar Anrufe zu erledigen.« Er lächelte breit. »Nie beim
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