Alma Mater
Chris zog Vic auf sich, schlang die Arme um ihren Hals und küßte sie.
So sehr sie sich auch vorsahen, hin und wieder entwich ihnen ein ersticktes Stöhnen, immerhin laut genug, um Mignon aufmerksam zu machen. Sie drückte ein Auge ans Schlüsselloch, konnte aber wegen der Dunkelheit nichts sehen. Sie lauschte angestrengt. Da war jemand bei Chris. Sie öffnete die Tür zum Flur, schlich auf Zehenspitzen zum Gästezimmer, spähte durchs Schlüsselloch. Von hier war es auch nicht heller.
Sie ging über den Flur, vorsichtig, um nicht auf die knarzenden Dielenbretter zu treten, und öffnete die Tür zu Vics Schlafzimmer. Jinx schlief tief und fest. Vics Bett war leer.
Zuerst war Mignon schockiert, weil ihre Schwester in Chris’ Zimmer war. Daß sie nicht Bridge spielten, war eindeutig. Rasch machte der Schock Neugierde Platz. Jetzt hatte Mignon ein weiteres Geheimnis für sich zu behalten. Der unverwechselbare strenge Herbstgeruch lag in der Luft, ein intensiver Duft nach Fluß, Laub und Erde. Im dichten Nebel sickerte die aufgehende Sonne verschwommen durch das Silber; dem Kalender nach war es Ende September, doch über Nacht war es Herbst geworden.
Die Natur änderte ihr Tempo, die Geschöpfe bewegten sich flinker, die Augen der Vögel glänzten heller, die Grillen zirpten lauter. Sogar der Fluß schüttelte seine lethargische Schwerfälligkeit ab und strömte schneller dahin.
Jinx, gewöhnlich keine Frühaufsteherin, staunte über sich, weil sie um sechs aufwachte. Vic, die schon angezogen war, gab ihr einen Klaps auf den Po.
Jinx schnupperte. »Frühstück.«
»Herbst«, erwiderte Vic.
»Mmm.« Jinx stellte die Füße auf den Boden. »Wann warst du wieder hier?«
»Ah, so gegen vier.«
»Muß gut sein.«
»Besser als gut. Ekstatisch.«
Jinx, die inzwischen im Bad war und die Zahnbürste mit Zahnpasta beschmiert hatte, sagte: »Ekstatisch. Muß ich mir merken.«
Frank plauderte beim Frühstück, ein kurzer Ausbruch von Frohsinn, bevor er sich in sein Büro zurückzog. Mignon musterte ihre Schwester eindringlich, als sähe sie sie zum ersten Mal, plapperte aber drauflos wie eh und je.
Lisa Baptista kam um acht Uhr in die Zufahrt gebraust und hupte auf dem ganzen Weg.
»Wow!« Mignon, die ihrer Mutter beim Düngerstreuen geholfen hatte, ließ den Handgriff los und merkte nicht, daß der Streuer den welligen Rasen hinunterrollte.
Vic rannte hinterher und bekam ihn zu fassen, während ihre Mutter zeterte, wie teuer Dünger sei.
Chris und Jinx pflückten Äpfel von den zwei Bäumen, da sie von R. J. diese Aufgabe erhalten hatten.
»Mignon!«, rief R. J.
Mignon, die vor Aufregung quiekend bei Lisa stand und deren ›neuen‹ alten Volvo bewunderte, rief zurück: »’tschuldige, Mom. Komme gleich.« Außerstande, ihre Begeisterung zu zügeln, klatschte sie in die Hände und sagte zu Lisa: »Der ist so was von cool. Obercool. Cooler als cool. Eiskalt. Dezember!«
»Ach, weißt du, die Fahrprüfung war leicht, außer rückwärts und vorwärts einparken. Ich mußte es zweimal machen, weil ich so nervös war, aber Mr. Trasker war echt nett. Ich bin heilfroh, daß ich ihn als Prüfer hatte und nicht Miss Pyle. Die hätte mich glatt durchrasseln lassen. Sie läßt jeden durchrasseln. Sie kann einfach den Gedanken nicht ertragen, daß jemand an seinem Geburtstag die Fahrprüfung macht.«
Jinx kletterte die Leiter hinunter und ging zu ihrer jüngeren Schwester. »Ah, ein fahrbarer Untersatz.«
»Hat Daddy mir gekauft. Irre, nicht?« Lisa hopste auf und ab wie auf einem Trampolin.
»Echt cool.« Jinx lächelte. »Du bist ein verdammt verwöhntes Gör, Lisa. Ich hab zum sechzehnten Geburtstag kein Auto gekriegt.«
Vic war inzwischen hinzugekommen, ebenso Chris. »Jinx, dein Dad verdient jetzt mehr.«
»Versicherung und Benzin muß ich selbst bezahlen. Daddy sagt, ich muß den Wert des Geldes kennen lernen.« Lisa deutete auf ihre goldenen Ohrringe. »Er sagt, für so was werde ich nichts mehr übrig behalten, aber das ist mir schnuppe. Ich hab ein Auto!«
»Mom wird begeistert sein«, bemerkte Jinx trocken.
»Ja, weil sie mich nicht mehr rumkutschieren muß. Sie ist restlos begeistert. Aber du solltest nach Hause kommen. Und wenn’s bloß für zehn Minuten ist. Komm einfach, sag ›hi‹ und streite dich nicht mit ihr. Dann ist sie glücklich. Und ich kann nichts dafür, daß Daddy dir kein Auto gekauft hat. Aber komm nach
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