Almas Baby
verhandeln. Vielleicht könnte er auch Berthold erpressen. In jedem Fall würde er versuchen, Geld aus dem Fall zu schlagen, der ihm da in den Schoss gefallen war. Das alles würde ein bisschen Zeit kosten. Zeit, die sie zur Flucht nutzen musste. So schnell wie möglich. Wieder auf die Straße. In den Kleingarten konnte sie auf jeden Fall erst spät am Abend zurück - wenn überhaupt.
Die Milch auf dem Herd kochte über. Ein brandiger Geruch breitete sich aus. Alma hatte den letzten Rest im Topf gerettet. Sie musste das Baby füttern, bevor sie Jasmins Wohnung verließ. Mit zitternden Händen füllte sie das Pulver der Babynahrung ins Fläschchen, gab die heiße Milch hinzu und schüttelte kräftig durch. Unter fließendem kalten Wasser versuchte sie, den Flascheninhalt etwas abzukühlen. Nachdem sie mit einem auf ihr Handgelenk geträufelten Milchtropfen die Temperatur geprüft und für richtig befunden hatte, bettelte sie das Baby an: „Bitte Marie. Du musst trinken. Bitte, bitte.“
Und das Wunder geschah: Marie begann zu nuckeln. Zumindest einige Sekunden lang. Dann spuckte sie den Sauger wieder aus. Alma verstaute die Flasche in dem Warmhaltebehälter aus Styropor, den sie glücklicherweise mitgebracht hatte. Sie nahm Marie auf den Arm und schaute sich noch einmal bedauernd um. Es wäre so schön gewesen. Jedenfalls ein bisschen Sicherheit. Allerdings nur ohne Mirko. Warum steckte man Luden wie ihn nicht in den Knast? Aber im Gegenteil. Das Gesetz war sogar geändert worden. Zuhälterei wurde nur noch bestraft, wenn sie ausbeuterisch und dirigistisch betrieben wurde. Was für ein Unsinn. Als ob es eine andere Spielart in diesem Gewerbe überhaupt gäbe. Natürlich beutete Mirko Jasmin aus. Natürlich bestimmte er, wo und wann sie arbeitete. Und wehe ihr, er erwischte sie auf Abwegen. Lediglich den üblichen Schuss ließ er ihr, weil er genau wusste, dass sie sonst nicht arbeitsfähig gewesen wäre. Aber genau wegen dieser vermeintlichen Generosität würde Jasmin ihn nie verpfeifen. Er war ja so gut zu ihr und passte auf sie auf. Klar, wenn er mit seinen Kumpels im Hinterzimmer der türkischen Teestube pokerte, während sie zu einem unbekannten Freier in den Wagen steigen musste, um ihm auf dem Brachgelände hinter dem Baumarkt ausgeliefert zu sein. Alma wusste aus eigener Erfahrung: Wenn die Nutten nicht gegenseitig aufeinander aufpassten, hatten sie keinerlei Schutz. Die Luden achteten nämlich nur auf eines: Am Ende musste die Kohle stimmen.
Alma legte das Baby unten im Hausflur wieder in den Kinderwagen. Vielleicht war’s ja gut, dass sie wieder auf Mirko gestoßen war und nicht hier bei Jasmin bleiben konnte. Möglicherweise wäre sie sonst wieder im Milieu gelandet - dort, wo sie nie wieder hin wollte. Auf der Straße sah sie sich vorsichtig um. Aber niemand schien auf sie zu achten. Sie musste raus aus der Nordstadt. Aber zunächst schlug sie über die Borsigstraße die Richtung zum Hoeschpark ein. Hier würde eine Frau mit Kinderwagen nicht so sehr auffallen. Sicher gab es dort auch ein stilles Plätzchen, an dem sie Marie füttern konnte. Später würde sie sich dann mit dem Kind zurück in Richtung Fredenbaumpark schlagen. Vielleicht mit einem kleinen Abstecher über die Ravensberger Straße, wo sie vielleicht Jasmin auf dem Strich antreffen würde, um hoffentlich noch etwas von der Kohle aus dem Geldautomaten zu sichern. Ihre letzte Hoffnung. Sie war müde, hungrig und durstig. Ein paar Euro hatte sie noch. In irgendeiner Imbissbude oder an einem Kiosk würde sie sich etwas zu essen und zu trinken besorgen. Und dann? Wie sollte es weitergehen? Darüber wollte sie jetzt noch nicht nachdenken. Alles würde sich finden - irgendwie. Vorsichtshalber hatte sie vom Küchentisch in Jasmins Wohnung ein großes Messer mitgenommen und im Kinderwagen versteckt. So fühlte sie sich wenigstens nicht mehr so ganz wehrlos.
Sie würde es schaffen. Alma hatte es doch noch immer geschafft. Auch damals, nachdem sie vom Gardasee zurückgekehrt waren. Berthold hatte sie tröstend an sich gedrückt und ihr versichert: „Wir kommen da schon drüber weg, Liebling. Wir sind ja noch so jung. Wir können noch Kinder kriegen, so viel wir wollen. Bitte, verzeih mir. Es tut mir so leid. Die Radtour war eine so hirnrissige Idee von mir. Mit einer schwangeren Frau. Was hab ich mir bloß dabei gedacht?“ Verzweifelt verbarg er sein Gesicht in den Händen. Alma schlang ihren Arm um seine Schultern. Sie schmiegte sich an ihn und
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