Alpengold (German Edition)
integriert und würde ihn nicht so einfach fahren lassen.
Sandra wählte die Nummer und er sah sich derweil in ihrem Zimmer um. Er war noch nie bei Sandra gewesen, die, wie er, noch bei ihren Eltern wohnte. Sie waren beide über zwanzig Jahre alt und noch solo. Solange sie niemanden fürs Leben fanden, wollten sie auch noch keine eigenen vier Wände haben. Jens hatte sich, seit er Tina das erste Mal sah, in sie verliebt. Ihr abweisendes Verhalten und vor allem ihr Verrat hatten seine Zuneigung für sie allerdings stark abkühlen lassen. Der Gedanke an den Anruf und ihre Beteuerung, Gefühle für ihn zu hegen, ließen ihm einen Schauer über den Rücken rieseln. Durfte das wahr sein? Die süße, wenn auch etwas kratzbürstige Tina, mochte ihn? Vielleicht war sie wirklich unschuldig und von ihrem Vater nur benutzt worden, das konnte er sich jetzt gut vorstellen. Und er wollte daran glauben, nur so hatte sie die Chance, ein Paar zu werden.
Ihr Zimmer wirkte wohnlich und sympathisch. Der Schreibtisch am Fenster gefiel Jens, er wirkte professionell, mit Computer, Aktenordnern und Papieren. Die Bilder über dem Bett schienen eher noch aus Sandras Teenagerzeit zu stammen und zeigten Boygroups.
Sandra telefonierte nicht lange. Jens hatte nicht mitbekommen, was sie sprach und schaute sie fragend an.
„Es ist alles klar, er fährt uns, morgen gehe ich zum Arzt und treffe mich dann mit Chris, um alles zu bequatschen. Du pack deine Sachen, besorge Geld und sprich mit deinen Eltern.“
„Jaa“, er stöhnte. „Sollen wir jetzt nicht Tina anrufen und ihr sagen, dass wir kommen?“
„Nee, lass mal. Sie soll ruhig noch ein wenig schmoren. Wir rufen sie an, wenn wir in der Nähe sind. Mach du die Route klar, lotse uns bis zum Ziel und versuche, etwas zum Übernachten zu finden. Zur Not können wir auch vor Ort eine Pension oder ein kleines Hotel suchen, aber das kostet Zeit. Wenn wir geschlafen haben, brauchen wir am Morgen nicht mehr weit zu fahren und sind frisch am Ziel - und dann rufe ich Tina an.“
Jens nickte zögernd. „Und Tinas Mutter, sollten wie sie anrufen?“
„Hm ... Ich denke nicht. Was können wir ihr schon sagen. Sie macht sich nur noch mehr Sorgen und geht bestimmt zur Polizei, um zu sagen, dass sich Tina gemeldet hat. Das wollen wir ja nicht.“
„Okay, das stimmt. Dann gehe ich mal heim und hoffe, schlafen zu können. Morgen muss ich meinem Alten in der Werkstatt helfen, ihm klarmachen, dass ich für ein paar Tage verschwinde, und einiges für die Fahrt besorgen.“ Er sah ihren Blick. „Ja, und Geld abholen, mach dir keinen Kopf.“
„Ich hoffe auch, schlafen zu können, ich will nicht schon wieder die ganze Nacht heulen. Was Tina angeht, mach du dir keinen Kopf, es wird alles gut werden. Verstehen kann ich sie allerdings nicht. Sie macht erst mit ihren Dad gemeinsame Sache und klaut uns das ganze Scheißgold, dann haut sie mit ihm ab und erst nach drei Monaten heißt es auf einmal: ‚Hilfe, Hilfe, hol mich hier weg, lieber Jens. Ach übrigens, ich liebe dich.‘
Das kaufe ich ihr nicht so ganz ab und ich werde misstrauisch und vorsichtig bleiben, wenn wir sie treffen. Wir gehen auch kein Risiko mit dem Irren ein, ist das klar?“
„Ist schon klar, ich verstehe dich und denke ähnlich wie du, keine Sorge. Ich will ihn auf jeden Fall im Knast sehen, dort, wo er hingehört. Ruf mich morgen an, ob alles in Ordnung geht, ja? Gute Nacht.“
Auf dem Rückweg von Sandra nach Hause grübelte Jens, ob sie richtig handelten, wenn sie die Polizei nicht informierten. Sicher war er sich nicht, aber er wollte selber handeln, die Sache in die eigenen Hände nehmen und nicht andere für sich arbeiten lassen. Das hatte er anscheinend von seinem Vater geerbt, der ging genau mit dieser Einstellung durchs Leben und regelte auch am liebsten alles selber.
Jens glaubte, Tina auf diese Weise am Besten helfen zu können und war jetzt bereit, es durchzuziehen. Brauchst du Hilfe, hilf dir selbst, hatte sein Vater ihm einmal gesagt und so wollte er handeln. Gespannt dachte er an Chris. Was war er für ein Mensch? Würden sie Freunde werden oder überhaupt nicht miteinander auskommen? Er würde sehen, im Moment freute er sich darauf, ihn kennenzulernen. Und er freute sich, Tina wiederzusehen. Hoffentlich ging alles gut.
In der Dunkelheit wäre er beinahe zu weit gefahren, gerade noch rechtzeitig erkannte er seine S-Bahnstation und sprang aus der Bahn, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte.
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