Alpenkasper
Bühne. Die war weitgehend leer, ein paar Stühle und an die 15 junge Männer und Frauen, die nacheinander aus ihrem Leben erzählten. Gemeinsam war ihnen, dass sie nach ihrer Schule keine Ausbildungsstelle gefunden hatten und sich nun auf kollektive theatrale Ursachensuche begeben hatten, eine Maßnahme der Arbeitsagentur. Zwischen den Schicksalsszenen zeigten sie, was sie noch drauf hatten, im Wesentlichen konnten sie Reime auf Beats machen. Die alten, erfahrenen Schauspieler rezitierten Texte von Kästner, Döblin und Brecht, in denen es um die Ausbeutung des Prekariats ging. Jakob zählte von oben die schlafenden Männer im Parkett und freute sich still über die Gattinnen, die sie mit Ellbogen-Stößen in die Rippen wieder zurück ans Geschehen vorne holen wollten. Eineinhalb Stunden Lebenszeit vergingen, bis enthusiastischer Applaus einsetzte. Angehörige erhoben sich von ihren Plätzen und riefen »Bravo!«. Auch Jakob klatschte in die Hände, um nicht aufzufallen. Albert Neun, Moni und der dritte Mann vom Regiepult zeigten sich auch auf der Bühne, Neun nahm sie beide an der Hand und gab ihnen ein Zeichen, sich zu verbeugen. Moni suchte die Zuschauerreihen ab und sah Jakob sitzen, sie lächelte ihn an. Als sich alle akustisch erleichtert hatten und sich den Ausgängen zuwandten, erschien noch einmal Albert Neun auf der Bühne, Bühnenarbeiter trugen neue Stühle auf die Bühne. Zwei ältere Herren, eine Dame voll Würde und der Jugendliche Oliver kamen und wurden mit Headset-Mikrofonen ausgestattet. Das Licht im Zuschauerraum ging aus. Die Ausgänge waren versperrt. Keiner konnte mehr raus. Alle waren jetzt drin im Publikumsgespräch. Albert Neun moderierte und interviewte sich selbst. Die Dame war von der Arbeitsagentur, die Herren von der sponsernden Sparkasse und der Industrie- und Handelskammer.
Es sei ungewöhnlich, ein solches Werkstattprojekt auf einer so großen Bühne zu zeigen, doch der Erfolg – alle Zusatzvorstellungen seien ausgebucht –, bestätige die Richtigkeit des Experiments, man hoffe, dass alle Jugendlichen durch diese Maßnahme nun eine Lehrstelle fänden, Betriebe zeigten großes Interesse an der Theaterarbeit und an den jungen Menschen, für ein örtliches Geldinstitut sei es eine Selbstverständlichkeit, ein solches Projekt zu unterstützen, das am Ende ja auch die lokale Wirtschaft stärke, auf ihrer Suche nach dem besten Humankapital, sie sei erstaunt, was für eine Weitsicht der gute alte Brecht schon gehabt habe, andererseits seien die Verhältnisse damals ja vergleichbar gewesen, gerade das beweise ja, wie wichtig Theaterarbeit heutzutage sei, dass man von den Brettern aus, die angeblich die Welt bedeuteten, immer noch dieselbe verändern könne, wolle man dies nur, und Oliver sei ja sonst nie in ein Theater gegangen, könne sich aber jetzt schon vorstellen, hier zu arbeiten einmal, vor allem als Techniker, das fasziniere ihn, die großen Scheinwerfer.
Jakob entdeckte, kurz bevor die Fragerunde eröffnet wurde, eine schlampig mit wenigen grauen Haaren überkämmte Glatze im Parkett. Sie gehörte einem Mann, der ähnlich wie Jakob, fest in seinem Programmheft mit einem Kugelschreiber herumschrieb – der Großkritiker Schultzberg. Es gibt viele engagierte Bürger in Augsburg, die auch was zu sagen haben, wenn man sie fragt und die auch was hören wollen, wenn sie fragen. 50 Minuten Lebenszeit vergingen.
Die Premierenfeier sollte in der Kantine abgehalten werden. Jakob hatte sich nicht beeilt und war doch einer der ersten unten. Franzbein nahm ihn in Empfang: »Hier geht es gleich richtig rund. Da nimm.« Jakob hatte eine Pilsflasche in der Hand. »Prost. Und viel Spaß.«
Der Keller füllte sich allmählich. Es gab Häppchen. Jakob lehnte sich an eine Säule mit seinem Pils. Von dort hatte er den Eingang gut im Blick und die, die reinkamen, ihn. Der Star, der Regisseur, kam und nahm ihn wahr, wusste im Moment nicht, woher er ihn kannte. Er grüßte freundlich, gab Jakob die Hand und sagte dann: »Helfen Sie mir!«
»Presse.«
»Richtig. War ein wilder Artikel, den Sie da geschrieben haben, über die vermeintliche Messerstecherei. Da wäre es mir das nächste Mal lieber, Sie ließen es mich noch mal gegenlesen, bevor Sie es an die Redaktion schicken. Abgemacht?«
»Das ist nicht üblich.« Jakob erwähnte nicht, dass er diesen Artikel nicht geschrieben hatte.
»Sie sind zu kurz dabei, das war bis vor wenigen Jahren gang und gäbe, dass Theater und Presse Hand in Hand
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