Alptraumland
halben Schritt vor und machte eine Verbeugung. Für Dr. Watsons Ironie hatte ich in dem Moment keinen Sinn. »Guten Tag, Sir«, sagte ich deutlich, ohne allzu laut zu werden.
Sir Sherlock drehte den Kopf noch ein Stück weit. Er schaute in meine Richtung, aber ich bemerkte, daß er mich kaum gewahrte, keineswegs jedoch aufgrund altersbedingter Fehlsichtigkeit. Das Grüblerische in seinen Augen steigerte sich zu einer gewissen Gereiztheit, als mutete man seinem Erinnerungsvermögen schon zuviel zu, wich dann jedoch erkennbar der Resignation in die bleibende Unfähigkeit, seinem Gedächtnis verwertbare Rückmeldungen abzutrotzen.
»Ach ja«, raunte er mit piepsiger Greisenstimme. »Mr. Bancroft …«
Nicht seine Augen waren es, die ihn der Möglichkeit beraubten, mich oder andere Gegebenheiten seines Umfeldes – die Wirklichkeit, in der er nur noch geringen Halt hatte – tatensachengetreu wahrzunehmen. Sein Gehirn war es, dessen Bezug zur Welt einen solchen Schwund erlitten hatte, daß seine geschrumpften Funktionen mit knapper Not das bloße Leben erhielten.
Mich hatte eine derartige Beklemmung gepackt, daß ich den Aufenthalt unmöglich ausdehnen konnte. Dieses Wrack war nicht – nicht mehr – der Sherlock Holmes, den man um das Erdenrund kannte und schätzte. Mein Besuch hatte den Zweck verfehlt. Ich nickte Dr. Watson zu und ging wortlos hinaus.
Du weißt, Frank, ich verlasse mich stark auf das, was ich ›unbewußte Korrelation scheinbar unzusammenhängender Dinge‹ nenne – diese Begabung ist es meines Erachtens, die meine (wie Du zugestehen wirst) außergewöhnlich gute Orientierung erklärt. Und dank eben dieser besonderen Beobachtungsgabe stellte ich, obwohl es dafür an dem Laien eindeutigen äußerlichen Beweisen mangelte, in Sir Sherlocks Nähe sogleich fest, daß sein bedauerliches körperliches Mißbefinden sowie sein geistiger Verfall weder aufs Alter zurückging, noch auf herkömmliche Erkrankung. Die Drogen, all das Haschisch und Opium, das Laudanum, Kokain und Heroin, zu denen er – wie so viele bedeutende Persönlichkeiten der verflossenen viktorianischen Epoche es taten – bedenkenlos griff, sobald er vermeinte, sein Verstand bedürfe erhöhter Stimulation, haben ihn so zugrundegerichtet. Ich weiß ganz genau, daß es so und nicht anders ist.
Also sind die Gerüchte über seinen geheimen Lebenswandel wahr. Es liegt mir fern, etwas als verwerflich zu verurteilen, von dem die Menschen vergangener Jahrzehnte den Eindruck der normalsten Gebräuchlichkeit hatten und über dessen Unklugheit und Schädlichkeit wir erst heute vollständige Klarheit haben; darum sei genug gesagt, wenn ich Dir mitteile, daß ich mit Erschütterung und Trauer im Gemüt von Sherlock Holmes Abschied nahm, und zwar nicht allein räumlich, sondern auch innerlich. Das Zeitalter der Detektive ist endgültig vorbei. Die Ära der Atomforscher, Astronomen und Arier hat begonnen. Weil dank meiner unseligen Sentimentalität meine seelische Aufwühlung nur allmählich abklingt und ich während der Eisenbahnreise nach Glasgow voraussichtlich ohnehin keinen Schlaf mehr finden kann, will ich Dir noch schildern, was ich gestern vormittag in London unternommen habe. Mir blieb etwas Zeit, um meinem Interesse an Architektur zu frönen und einige der bemerkenswertesten Baudenkmäler zu besichtigen, darunter die Albert Hall, die Bank of England (dort allerdings nur den Innenhof), den Tower, den Hampton Court Palace sowie das herausragendste Juwel der englischen Baukunst, das Queen’s House …
DIE AUSSAGE DES CONSTABLE LAWRENCE McGIVERN
Leiter des Verhörs:
Superintendent Roger Thornhill, Scotland Yard
THORNHILL: Constable, Sie waren im Jahr 1910 als erster mit dem Verschwinden der Janet Kirk befaßt. Haben die Gerüchte, die seinerzeit über Mr. Stephen Ashton im Umlauf waren, Sie dazu veranlaßt, ihn zu verhören?
McGIVERN: Aber nein, Sir.
THORNHILL: Darf ich fragen, warum nicht?
McGIVERN: Jawohl, Sir.
THORNHILL: Nun, ich frage Sie hiermit, Constable.
McGIVERN: Verzeihung, Mr. Thornhill, Sir. Nun, die ganze Angelegenheit kam mir damals völlig klar vor. Ich habe Mr. Ashton deswegen nicht verhört, weil dazu nicht die geringste Veranlassung bestand. Kein Beamter Seiner Majestät, der seiner sechs Sinne mächtig ist …
THORNHILL: Fünf, Constable.
McGIVERN: Sir …?
THORNHILL: Fünf Sinne hat der Mensch, Constable. Das behauptet jedenfalls die Wissenschaft. Es ist freilich nicht auszuschließen, daß die Beamten
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