Alptraumland
Gleichgesinnte?
O’FARRELL: Brüder gleicher Kappe, Sir. Als Freunde kann man sie wohl nicht bezeichnen.
THORNHILL: Eine interessante Theorie … Mr. O’Farrell, waren Sie für Mr. Stephen Ashton das, was Sie als Bruder gleicher Kappe bezeichnen?
O’FARRELL: Nein, Mr. Thornhill. Das war ich ganz und gar nicht. Ich war für Ashton mehr oder weniger ein Nichts. Man könnte sagen, ich war sein Kofferträger.
THORNHILL: Sie waren bei ihm angestellt?
O’FARRELL: Das nicht, Sir. Wir waren im Grunde Partner, aber es zeigte sich kaum … Er hat mich eigentlich immer nur als Arbeitskraft benutzt. Als Mann fürs Grobe gewissermaßen.
THORNHILL: Bei welchem Unternehmen, Mr. O’Farrell?
O’FARRELL: Wir haben zusammen Gold gesucht. Im Nordwest-Territorium, Sir, in Kanada. Am Klondike, falls Ihnen dieser Ausdruck geläufiger ist. Achtzehnhundertachtundneunzig. Wir haben uns auf dem Weg dorthin kennengelernt und zusammengetan. Wir haben unser Gepäck gemeinsam über den Chilkoot-Paß geschleppt, sind mit einem Boot, das ich gebaut habe, über den Yukon in die Gegend von Dawson gefahren und haben uns am Bonanza Creek zwei Claims abgesteckt. Wir sind auch bald fündig geworden.
THORNHILL: Sie haben Gold gefunden?
O’FARRELL: Ja. Ashton hatte zwar mehr Glück als ich, aber ich bin auch nicht gerade arm. Offen gesagt, Sir, ich gehöre zu den wenigen Menschen, denen es nach dem Goldrausch gelungen ist, ihr Vermögen beisammenzuhalten. Was nicht einfach war bei den Preisen, die man in Dawson für Whisky und Weiber zahlen mußte. Ashton und ich … Wir hatten uns vorgenommen, als reiche Männer nach Hause zurückzukehren, deshalb haben wir geschuftet bis zum Umfallen und uns vom Whisky, dem Spieltisch und den Weibern ferngehalten. Neunzehnhundert, als wir für unsere Ansprüche genug hatten, haben wir unsere Claims an eine amerikanische Schürfgesellschaft verkauft, die den Boden mit modernen Maschinen umgraben wollte. Ashton hat seine Sachen gepackt und dem Land den Rücken gekehrt. Ich bin noch zwei Jahre in Dawson geblieben. Dann habe ich mir ein Sägewerk, drei Spielsalons und zwei Hotels gekauft. Heute lebe ich in Kalifornien.
THORNHILL: Wie haben Sie Mr. Stephen Ashton kennengelernt, Mr. O’Farrell?
O’FARRELL: Auf dem Chilkoot-Paß, als wir von Alaska nach Kanada rüber sind. Wir haben uns zusammengetan, weil man im Team besser vorankommt. Falls mal einer krank wird und so …
THORNHILL: Und welcher Teil Ihres Wissens kann Ihrer Meinung zufolge dazu beitragen, den Charakter Stephen Ashtons zu erhellen?
O’FARRELL: Wie Sie vermutlich wissen, Sir, ist der Winter im Norden lausig kalt. Wenn man als Trapper oder Goldsucher auf dem Trail ist …
THORNHILL: Auf dem Trail?
O’FARRELL: Auf Achse. Unterwegs. Da kann es hin und wieder vorkommen, daß man aufgrund schlechter Witterung ein Biwak errichten muß oder sich verläuft. Und wenn einem dann der Proviant ausgeht, dann gute Nacht, Marie. Fast jeder, der da oben sein Glück versucht hat, ist schon mal in eine solche Situation gekommen. Erfahrene Sauerteige …
THORNHILL: Sauerteige?
O’FARRELL: So werden im Nordwest-Territorium die alteingesessenen Trapper, genannt Sir, jene Männer, die schon zwanzig Jahre vor dem Goldrausch im Land gewesen sind. Weil sie ihr Brot immer aus Sauerteig backen.
THORNHILL: Ach so. Bitte weiter, Mr. O’Farrell.
O’FARRELL: Wenn ein Sauerteig in eine solche Situation kommt, steht er oft vor der Frage, ob er verhungern oder einen seiner Schlittenhunde essen soll …
THORNHILL: Gütiger Gott, Mr. O’Farrell …
O’FARRELL: Manch einer bringt so was nicht übers Herz, aber andere sind in einer solchen Lage völlig gefühllos und handeln mit Bedacht. Im Norden heißt es fressen oder gefressen werden …
THORNHILL: Ich verstehe, Mr. O’Farrell …
O’FARRELL: Eines Tages, es war im tiefsten Winter, brach auf dem Claim eines Nachbarn ein Feuer aus, das sich rasend schnell auf zwei weitere Claims ausbreitete. Es gab mehrere Verletzte und einen gewaltigen Proviantverlust, den wir, selbst wenn wir zusammenwarfen, nicht ausgleichen konnten. Da wir dringend einen Arzt und eine Ladung Mehl brauchten, beschlossen wir, zwei Männer nach Dawson zu schicken. Das Los fiel auf einen Frankokanadier namens Delveaux und Stephen Ashton. Wir spannten die stärksten Hunde ein und schickten sie los. Bis nach Dawson waren es knappe hundert Meilen, was im Norden keine besondere Entfernung ist, aber statt vier Tage dauerte es vier Wochen, bis
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