Alptraumland
gewissem Zögern, zu Papier bringen möchte.
Zunächst einmal bin ich durchaus der Ansicht, daß bei Vorfahren einer so greulichen Reputation und anscheinend in der Tat abstoßenden Charakters eine erbgutliche Belastung Ashtons vorliegen muß. Wahnsinn und Neigungen zum Geschmacklosen, etwa dem Briefmarkenlecken, das jeder echte Gentleman kategorisch verwirft, pflanzen sich leicht über viele Generationen hinweg fort, schlummern bisweilen im Innern eines Menschen, bis die Einwirkung äußerer Umstände sie ungeahnt erneut zum Ausbruch bringt. Man betrachte nur die Ernährungsgewohnheiten der heutigen Menschen. Ihr Speiseplan bewegte sich im großen und ganzen noch innerhalb des barbarischen Verzehrs, mit dem sie notgedrungen in der Urzeit ihre Bedürfnisse befriedigen mußten. Mit Anbeginn des Ackerbaus hätte nach und nach eine Abkehr von der ekelerregenden Fleischfresserei eingeleitet werden können. Daß dieser Umschwung ausgeblieben ist, erklärt sich, so glaube ich eindeutig zu erkennen, aus dem gewohnheitsmäßigen Hang des überwiegenden Großteils aller Erdbewohner zum Niedrigen. Du wirst sofort verstehen, warum ich gerade dieses Beispiel anführe, wenn ich Dir erzähle, daß bei Ashton seit einigen Tagen ein regelrecht widerlicher Appetit auf Fleisch, nein, rohes Fleisch zu beobachten ist. Mit Sicherheit zeigt sich darin eine Regression, ein sich in wachsendem Maß verselbständigender Rückfall in eine viehische Unsitte primitiver Ahnen.
Auf welche Umstände äußerlicher Natur sollten hier, fragst Du Dich jetzt – und mit vollem Recht –, bei Roderick Ashton derlei beklagenswerte Ergebnisse zeitigen? Ich glaube, es ist, antworte ich dir unumwunden, dieses gar zu gruselige Haus, Ashton Manor, diese architektonische Mißgeburt. Ich kann mir kein zweites Gebäude vorstellen, keine zweite Örtlichkeit, wo der Genius loci, der Geist des Ortes, durch seine psychischen Miasmen mit so unmißverständlich spürbarer, gnadenloser Herrschsucht das Gemüt eines Lebenden seiner Gewalt unterwirft und zum Werkzeug erniedrigt. Ja, ich bin zu der Auffassung gelangt, Ashton ist zum Besessenen geworden, zu einem willenlosen Erfüllungsgehilfen der mentalen Macht seiner Ahnen. Wie diese jedoch die Gesetzmäßigkeiten der Zeit umgehen und die Grenzlinien des euklidischen Raums überschreiten, um in unserer Gegenwart ihre unheilvollen Manipulationen auszuüben, weiß ich Dir im Moment, wie sehr ich es mir auch wünschte, nicht zu erläutern. Höchstens vermuten kann ich, daß das Haus dabei als etwas ähnliches wie ein Agens dient, mittels dessen es ihnen möglich wird, die physikalischen Trennwände zwischen isolierten Dimensionen zu durchdringen – aber das ist und bleibt pure, aufs Imaginative gestützte Spekulation …
Aber nun, Frank, nun schreibe ich Dir etwas, das ich diesem Blatt nur unter den schwersten Bedenken anvertraue, und zudem wage ich mich nur in Andeutungen zu ergehen … Anscheinend verhält es sich wohl so, daß das vor kurzem mit Mr. Angus Robertson, dem Bruder des Anwalts Robertson, gehabte Gespräch, zumindest den Verdacht nahelegt, diese »viehischen Ahnen« Ashtons könnten in keineswegs so ferner Vergangenheit gelebt haben, wie man annehmen sollte – daß sie vielmehr Kinder der jüngeren historischen Zeiträume waren und sich bis in unser Jahrhundert an ihrer Art nichts geändert hat …
DIE AUSSAGE DES ALEXANDER O’FARRELL
Leiter des Verhörs:
Superintendent Roger Thornhill, Scotland Yard
THORNHILL: Mr. O’Farrell, bevor wir uns mit Ihrer Aussage beschäftigen, möchte ich Ihnen im Namen des Ausschusses danken, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, die beschwerliche Reise von den Vereinigten Staaten nach Schottland auf sich zu nehmen.
O’FARRELL: Keine Ursache, Sir. Als ich die Nachricht in der Zeitung las, dachte ich, es sei meine Pflicht, mich beim Yard zu melden, um etwas zur Erhellung des Charakters Sir Stephen Ashtons beizutragen.
THORNHILL: Nochmals vielen Dank, Mr. O’Farrell. Darf ich Sie fragen, in welcher Beziehung Sie zu Mr. Ashton standen?
O’FARRELL: Wir waren Bekannte …
THORNHILL: Befreundet waren Sie nicht mit ihm, Mr. O’Farrell?
O’FARRELL: Nein, Sir. Nur bekannt. Stephen Ashton hatte keine Freunde … im klassischen Sinn.
THORNHILL: Ich muß gestehen, daß Ihre Worte mich verblüffen, Mr. O’Farrell. Hat nicht jeder Mensch wenigstens einen Freund?
O’FARRELL: Nein, Sir. Manche Menschen haben nur Gleichgesinnte.
THORNHILL:
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