Alraunes Todeskuß
hörte ich die Schreie.
Für die Dauer einer Sekunde blieb ich stehen, weil ich herausfinden wollte, wo sie aufgeklungen waren. Es waren die Schreie nur einer Person. Ich wußte Bescheid. Maria!
***
Alraune sprang aus ihrem Gefängnis!
Lange genug hatte sie sich in der Schublade versteckt gehalten. Sie war sehr raffiniert gewesen und hatte genau darauf geachtet, was die Frau und der Mann gesprochen hatten. Und sie hatte auch gespürt, daß Maria einen besonderen Beschützer mitgebracht hatte. Dieser Mann, den sie nicht kannte, war seltsam. Er war ein Mensch, den sie nicht einordnen konnte. Sicher war nur, daß er nicht zu ihren Freunden zählte, und sie würde ihn entsprechend behandeln.
Durch ihre ausgezeichneten Ohren hatte sie sich orientieren können. Sie wußte nun Bescheid, wie alles gelaufen war, und sie hatte auch mitbekommen, wo Maria saß.
Direkt vor ihr.
Vor der Lade, wo sich ebenfalls Kosmetik, bestehend aus Cremes und anderem Zeug, verteilte. Puder, Pinsel, flache Tiegel, alles bildete ein Durcheinander, in dem sich die kleine Alraune alles andere als wohl fühlte.
Nur mußte sie den genauen Zeitpunkt für eine Aktion sehr gut timen.
Und diese Sekunde war da, als Maria die Schublade aufzog und vor Grauen erstarrte.
Die Alraune hatte sich darauf vorbereiten können und flog der Frau entgegen.
Während des Sprungs und innerhalb dieser kurzen Zeit sah sie sehr deutlich das Gesicht der Person, das auf einmal zu einer erstarrten Maske geworden war. Maria konnte einfach nicht fassen, welch ein Schrecken ihr da lebendig entgegenstieß.
Maria hielt das scharfe Lachen für eine Einbildung, das war es nicht, denn Alraune hatte ihren Triumph hinausgelacht, weil sie sicher war, daß ihr das Opfer nicht mehr entwischen konnte. So etwas war noch nie passiert, sie war einfach zu gut.
Aber sie hatte diesmal Pech oder Maria hatte Glück im Unglück, denn mit einer zuckenden und selbst kaum nachvollziehbaren Bewegung drehte sie den Kopf zur Seite, und dieser plötzliche Schwung übertrug sich auch auf den fahrbaren Drehstuhl, denn der rollte gleichzeitig auch nach hinten.
Alraune erwischte ihr Opfer, aber sie erwischte es nicht richtig. Die Hände griffen zwar zu, rutschten jedoch am Hals ab und hinterließen rote Wunden, aus denen das Blut perlte.
Der eigene Schwung der Alraune wurde ihr zum Verhängnis, denn sie glitt über die Schulter der Frau hinweg und damit auch über die Lehne.
Maria hörte, wie das kleine Wesen zu Boden fiel, und sie selbst sprang in die Höhe.
Der Stuhl rollte durch diese heftige Bewegung zurück. Sie stieß sich noch an der Kante der offenstehenden Schublade den rechten Oberschenkel, ignorierte den Schmerz und hörte dafür das Fluchen der Alraune, denn der Stuhl hatte nicht gestoppt und war schwankend über den kleinen Körper gerollt.
Das brachte sie nicht aus dem Konzept. Damit konnte sie nicht vernichtet werden, und sie steckte auch noch immer voller Gier, die sie befriedigen wollte.
Sie sprang hoch.
Auch Maria saß nicht mehr auf dem Stuhl. In ihrer Panik war sie in die falsche Richtung zurückgewichen. Anstatt auf die Tür zuzulaufen, war sie mit der Schulter gegen den zusammengeklappten Paravent gestoßen, der diesem Druck nicht hatte standhalten können und umkippte.
Er rutschte an der Wand entlang, und dieses Geräusch riß Maria endgültig aus ihrer Lethargie. Sie mußte weg. Aber da war die kleine Frau.
Zum erstenmal sah Maria sie, und plötzlich fing es in ihrem Gehirn an zu arbeiten. Sie vollzog jetzt richtig nach, wer da vor ihr stand und wer möglicherweise im Körper ihres Bruders so parasitär gehaust hatte.
Eine nackte Frau, eine nackte Puppe mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Allerdings mit einem Körper, der so unnatürlich bleich war und an Holz erinnerte, von dem die Rinde abgeschnitten worden war, der sich aber trotzdem geschmeidig bewegte, denn mit zwei für ihn langen Schritten ging er auf die Tür zu.
Alraune versperrte der Tänzerin den Weg. Ihr Mund klaffte in die Breite.
Durch den Spalt zwischen den Lippen strömte ein Geräusch hervor, das an das Knurren eines wütenden Hundes erinnerte, und Maria schrak zusammen.
So klein dieses nicht erklärbare Wesen auch war, es ging eine tödliche Gefahr von ihm aus, und Maria durfte es auf keinen Fall unterschätzen.
Sie konnte ihren Blick nicht vom Gesicht der winzigen Frau abwenden.
Und dort interessierte sie besonders der Mund, der eine andere Form annahm und sich weiter öffnete.
Ein Loch
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