Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Gartenhaus. Die Erlebnisse hielten sie bis zum Morgengrauen wach. Der in Schwarz gekleidete Mann verfolgte sie seit sechsundfünfzig Jahren, doch an diesem Abend schien er ihren Körper und ihre Seele zu berühren. Und bei jeder Zärtlichkeit öffneten sich gleichzeitig zehntausend Wunden.
21
Für Jacqueline war es ein schwerer Tag gewesen. Und dank der Informationen einiger junger Libellen wussten wir, dass die nächsten Tage auch für Marcel, der bis zum Hals in der Loire stand, entsetzlich waren. Am Mont Gerbier de Jonc half Paul Marcel, die gesamte Ausrüstung anzulegen. Mit einer nagelneuen Digitalkamera schoss er ein Foto von seinem Freund und zeigte es ihm. Mit dem Schlauch vor dem Bauch und dem großen Rucksack auf dem Rücken sah Marcel ein wenig lächerlich aus, als er neben dem Schild »Mont Gerbier de Jonc« verlegen für die Kamera posierte. Paul scherzte, dass er das Bild einem Journalisten bei der »Nouvelle République« schicken würde, mit dem er befreundet war, doch er hörte bald damit auf. Er wusste, dass er gehen musste, ehe Marcel es sich noch anders überlegte. Also umarmte Paul seinen Freund und verabredete sich mit ihm in Notre Dame de Monts. »Du rufst mich an, okay?« Dann verschwand sein Auto hinter dem Wagen eines Touristen. Der Abschied war kurz und schmerzlos gewesen.
Marcel begann seine Wanderung und folgte dem Bach, der Loire hieß, wie in kleiner Kursivschrift auf einem Schild stand. Nach sechs Kilometern wurde der Fluss schließlich mit Großbuchstaben und einer schönen Brücke bedacht, die nach Sainte-Eulalie führte. Kleine Kirchen, ein paar verlassene Häuser, ein Himmel, der plötzlich zu der Landschaft passte, ein von Kiefern und Haselsträuchern gesäumter Feldweg, Pferdekoppeln, hübsche, aus Stein gebaute Bauernhöfe. Ach, wenn Marcel nur diese Erde hätte sehen können, über die er wanderte. Doch er sah nichts, denn die Schmerzen, die er spürte, als er einen Fuß vor den anderen setzte, überlagerten alles. Sein Körper rebellierte gegen das schwere Gepäck, und durch den bedrohlichen Gedanken an die tausend Kilometer wurde es noch schwerer.
In den ersten drei Nächten schlief Marcel in kleinen Hotels. Das Erwachen war jedes Mal schrecklich. Am vierten Tag schlug er das Zelt auf einer Sandbank auf. Am nächsten Tag musste er sich von seinen Illusionen verabschieden. Es war die reinste Hölle.
Blasen an den Füßen und eine Pilzinfektion zwischen den Zehen, ein Rücken, der sich unter der Last des viel zu schweren Rucksacks krümmte, Knie, die den Dienst zu versagen drohten. Blaue Flecken und Kratzer, die Hälfte seiner Sachen war nass, und Marcel, der die Kälte nicht fürchtete, zitterte die ganze Nacht. Als er das erste Mal in den Fluss getaucht war, drang Wasser in sein Handy ein, und jetzt funktionierte es nicht mehr. Die viel zu dünne Isomatte quälte seinen Rücken. Sein Magen knurrte vor Hunger; der Rest des Körpers rebellierte ebenfalls, undan windigen Tagen litt er an Kopfschmerzen. Marcel geriet außer Atem, und ihm fehlte der Elan, sein großes Abenteuer in die Tat umzusetzen. Er würde keine fünfundzwanzig Kilometer pro Tag schaffen. Nicht mit diesem furchtbar schweren Rucksack. Allerhöchstens fünfzehn Kilometer. Mehrmals hatte er daran gedacht, bis an seine Grenzen zu gehen, und zwanzig Kilometer ins Auge gefasst. Er schaute auf die Karte: knapp zehn Kilometer.
Marcel würde sich bis ans Ende seines Lebens an diese Hydrospeed-Tour erinnern. Kurz vor Cussac ging er mit dem ganzen Zeug ins Wasser, was keineswegs seinem Zeitplan entsprach. Es war zu früh und der Wasserpegel zu niedrig. Hier gab es zu viele Stromschnellen und zu viele Steine. Dennoch konnte Marcel nicht länger warten. Die Wanderung war eine solche Qual, dass es im Wasser auf jeden Fall angenehmer sein musste. Sein malträtierter Körper träumte nur noch davon, auf dem Wasser zu treiben. Die starke Strömung überraschte ihn. Sie erfasste sofort den Rucksack, den er sich um die Taille gebunden hatte. Marcel bereitete es größte Probleme, den Schwimmkörper richtig auszurichten, und er stellte fest, dass er überhaupt nicht praktisch war. Sehr schnell, viel zu schnell trieben der Rucksack, der Schwimmkörper und Marcel die Loire wie Schiffbrüchige hinunter. Die Schwimmflossen rutschten ihm fast von den Füßen, und dann schlug er mehrmals mit den Knien gegen den steinigen Boden. Es war ein Albtraum, die ersten kleinen Stromschnellen zu passieren, die vom Ufer aus vollkommen
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