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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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das Glas seinem Gastgeber hin, der ihm Wein nachgoss.
    »Bitte.«
    Sie schwiegen wieder, die Männer und der Hund, und überließen den Vögeln das Schwätzen. Marcel überlegte, ob es nicht an der Zeit war, sich von seinen stummen Gastgebern zu verabschieden, doch dann besann er sich anders. Hier war es schöner als auf der Sandbank. Seine Abenteuerreise endete sowieso hier. Er hatte aufgegeben und brauchte sich nicht zu beeilen.
    Von einem Augenblick auf den anderen änderte Marcels Stimmung sich schlagartig. Ebenso wie die Natur ringsherum, die sich aufheiterte, als die Sonne hinter einer Wolke hervorkam, wurde auch seine Zukunft klarer. Es war ihm, als wäre die frische Brise auch durch seinen Kopf geweht, hätte ihn gänzlich neu belebt und alles weggefegt bis auf das Wesentliche. Die Lösung war von Anfang an da gewesen, und dennoch hatte er sich hartnäckig dagegen gesträubt. Ein herrlicher Satz klang in seinen Ohren: »Warum mache ich mir das Leben so schwer?«
    Marcel streckte die Beine aus und freute sich, dass er einer Katastrophe entkommen war. Wenn er bedachte, dass um ein Haar alles schiefgegangen wäre. Selbst er, ein Mann mit viel Lebenserfahrung, hatte das Unglück nicht kommen sehen, obwohl es so nahe gewesen war, dass er ihm einen Tritt in den Allerwertesten hätte versetzen können. Zuerst musste er diesem Weisen in Anglerstiefeln über den Weg laufen, diesem Süßwasser-Homöopathen und Feinschmecker, der gerne Leberpastete aß, um es klar zu erkennen. Verblendet durch ein schlecht durchdachtes Projekt, hatte Marcel die letzten vier Tage verstreichen lassen, sodass er nicht begriffen hatte, was er wirklich suchte: Freiheit.
    Boreas, der Nordwind, der bei dieser Gelegenheit eingesetzt hatte, der Hund, die Vögel, die Fische und das ganze Getier, die wilden Schwäne und die Biber, die normalerweise nicht besonders klug waren, hielten in diesem Augenblick den Atem an. War es denn zu fassen, dass sich in diesem Jahrhundert nicht nur ein Mann, sondern sogar zwei die Muße nahmen, im Einklang mit der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten zu leben? War das denn die Möglichkeit?
    Nein. Marcel beschloss, die Loire von hier aus mit dem Kanu hinunterzufahren. Das ging schneller. Dann käme er auch genau an dem Tag an, den seine Excel-Tabelle errechnet hatte. Was war er nur für ein Dummkopf gewesen!

22
    Die meisten Sterne sterben sang- und klanglos. Auch unsere Sonne wird eines Tages ohne großes Aufsehen erlöschen. Doch eine Supernova wird von einer Explosion und dem hellen Aufleuchten des sterbenden Sterns begleitet. Apeliotes scherte sich nicht darum, ob er sich womöglich wiederholte. Man durfte ihn auf gar keinen Fall unterbrechen.
    Bei einer Supernova entstehen durch die Explosion so schwere Atome, dass es sogar die Vorstellungskraft des Urknalls übersteigt: Gold, Silber, Platin und alles, was glänzt und was geglänzt hat. In der Stunde ihres Ruhmes erstrahlt die Supernova in einem unvorstellbar hellen Licht, das die große Unendlichkeit erleuchtet.
    Apeliotes machte sich lachend davon, um mit dem Schaum der Wellen zu spielen. Er ließ mich an diesem grauen Morgen an der Plage des Vieilles allein und kehrte dann zurück. Er lachte und sagte, dass die Menschen, die doch sonst alles wussten, die Ursache all dieser Energie, dieses Chaos und des Lichts nicht verstanden.
    Und was war die Ursache? Es gab Theorien, Erklärungen, Diskussionen und Berichte in wissenschaftlichen Abhandlungen, von denen in Pauls Büro unzählige lagen. In jüngster Zeit war viel von Neutrinos die Rede, diesen exotischen Elementarteilchen, die dem sterbenden Stern vielleicht seine Energie verliehen. Paul, der sich auf dem Dachboden aufhielt, versuchte, an göttliche Einwirkung zu glauben, ohne letztendlich davon überzeugt zu sein. Er suchte nach Antworten, doch nicht an diesem Abend, denn er kam gerade von einem Besuch im Krankenhaus zurück. Daher schien es nicht der passende Moment zu sein, über die Unwissenheit der Menschen und die Großartigkeit des Himmels zu lachen. Ich fragte mich, warum Paul einen Besuch im Krankenhaus gemacht hatte, als ich bemerkte, dass Apeliotes verschwunden war.
    Das war unerfreulich, denn mich quälte tiefe Melancholie. Ich setzte mich auf eine Distel und betrachtete den neuen Junitag, der sich über den Felsklippen abzeichnete. Bald würde der Juli beginnen. Ich war drei Wochen alt. Die meisten meiner Brüder hatten mittlerweile ihr »anderes« Großes Ochsenauge gefunden und somit ihre

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