Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Fleur hatten sich inzwischen alle mit der sonderbaren Situation arrangiert. Jacqueline verbrachte die Nächte im Atelier, und tagsüber zog sie sich ins Gartenhaus zurück. Sie ging kaum einmal auf die Terrasse. Während der Mahlzeiten spielte sie perfekt die Rolle der tapfer Leidenden, die man im Stillen bedauern musste. Nane hatte sich daran gewöhnt und behandelte Jacqueline, als wäre sie schon immer Teil ihres Mobiliars gewesen. Sie stellte keine Fragen mehr, und alles war gut, wie es war. Arminda hingegen kam die Cousine suspekt vor, und dieser Eindruck verstärkte sich von Tag zu Tag.
Da ich nicht in das Gartenhaus eindringen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf etwas unzuverlässige Informanten zu verlassen: die Feuerwanzen. Die meisten von ihnen verbrachten die Zeit damit, die Stockrosensamen von Madame Tricot zu fressen, doch einige klebten immer am Fenster des Gartenhauses. Ihre Berichte wichen ein wenig voneinander ab, aber sie stellten übereinstimmend fest, dass Jacqueline viel las undträumte. Auf der Insel war es mittlerweile sehr heiß geworden. In dieser schwülen Hitze zogen sich sowohl die Menschen als auch die Insekten in schattige Ecken zurück. Jacqueline öffnete die Fensterläden kaum einen Spalt und ging irgendwelchen banalen Beschäftigungen nach, die sie stundenlang in Anspruch nahmen. Als sie zum Beispiel einen Knopf an den rosafarbenen Morgenmantel nähte, sah sie plötzlich eine Szene aus den Schuhkartons vor Augen. Die Schrift einer kurzen Mitteilung an Perpétue, die eine Buchsendung begleitete, führte zu einem imaginären Dialog mit ihrer Briefpartnerin aus Benin. Jacqueline lachte über ihr erträumtes Leben, das die Kleinen faszinierte.
Anfangs kam es vor, dass sie vor dem Spiegel stand und zu murmeln begann. Mittlerweile spielte sie ihre Rolle wie eine Schauspielerin in ihrer Garderobe und probte Dialoge aus melodramatischen Theaterstücken vor hübsch dekorierten Bühnen. Manchmal verstummte sie abrupt und starrte auf Geister, die ihren Träumen entflohen waren.
Die kleine Reproduktion des byzantinischen Gemäldes der Jungfrau der Zärtlichkeit lenkte häufig ihre Aufmerksamkeit auf sich. Maria mit dem rissigen Teint, die das kleine Jesuskind an ihre Wange presste. Ihre langen goldenen Finger hielten das Kind, als wäre es federleicht, und sein Kopf war im Vergleich zu ihrem winzig. Er war so klein, dass das Kind wohl zu früh zur Welt gekommen sein musste, dachte Jacqueline. Sie betrachtete Mutter und Sohn sehr oft. Und in diesen Augenblicken sprach sie nicht. Nur der Staub tanzte in dem Lichtstrahl, derauf ihre runzeligen Hände fiel. Jedenfalls wusste ich, was sie in den schlaflosen Nächten tat. Ich hielt mich vor dem Fenster des Ateliers auf. Bevor ich auf dem Efeu einschlief, sah ich, dass sie die Kartons auspackte und wirres Zeug murmelte. Vielleicht stellte sie sich vor, sie wäre eine Ballkönigin und stünde im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Jacqueline gab zurückhaltende Antworten auf Fragen, die sie sich selbst ausdachte, doch alle wussten, dass sie eine glückliche, faszinierende Frau war, die viele Reisen unternahm und ein erfülltes Leben führte. Die zusammenhanglosen Satzbruchstücke glichen immer stärker Nanes feinen Spötteleien. In dem fahlen Licht des Ateliers erfand Jacqueline ein neues Leben für sich. Je mehr Kartons sie öffnete, desto stärker ähnelte sie einer Wahnsinnigen.
Nachdem sie eine Woche lang von niemandem im Atelier überrascht worden war, vergaß Jacqueline wohl, dass sie nicht berechtigt war, sich dort aufzuhalten. Die anfängliche Vorsicht war wie weggeblasen. Sie ließ Kartons fallen, sprach laut und öffnete Türen, die knarrten. Schließlich kam es so, wie es kommen musste.
Mittlerweile kannte Jacqueline alle Bilder aus den Kartons, die in dem kleinen weißen Küchenschrank aus Kunststoff standen. Die Reise durch die Vergangenheit hatte sie von New York nach Buenos Aires und von La Baule nach Chamonix geführt und von den Geburten der Kinder bis zu Geburtstagen im vorgerückten Alter. Sie hatte Schwarz-Weiß- und Farbfotos, matte und glänzende Fotos betrachtet, aber keine weiteren Fotos des in Schwarz gekleideten Mannes gefunden. Nane musste dieHochzeitsfotos von 1953 aufbewahrt haben, denn sie bewahrte alles auf. Also musste noch woanders ein Karton stehen.
Nachdem Jacqueline überall herumgewühlt hatte, stieg sie die Holzstufen zu dem Zwischengeschoss hinauf, wo noch ein Karton mit dem Etikett
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