Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
aufzubrechen.
19
Marcel kam es so vor, als würde er aus einem schlechten Traum erwachen. Während der gesamten Planungsphase hatte er sich alle Mühe gegeben, die leise, näselnde Stimme, die ihm zuflüsterte, das Ganze sei eine Schnapsidee, zum Verstummen zu bringen. Er wollte zu einer tausend Kilometer langen Tour aufbrechen, die zahlreiche unberechenbare Gefahren barg, die er mit Sicherheit unterschätzte. Als er daran dachte, dass er im Alter von sechsundsiebzig Jahren den enormen Anstrengungen allein ausgesetzt sein würde, regten sich leise Zweifel, ob er überhaupt überleben würde. Die Idee war an sich schon verrückt genug, und wenn man noch die Illusion hinzurechnete, dass diese Reise seine Ehe retten sollte, konnte man das Unternehmen nur als den reinsten Irrsinn bezeichnen. In der Woche der Vorbereitungen hatte Marcel nämlich in jeder Minute des Bastelns und bei jeder Zeile seiner Excel-Tabelle etwas verschwiegen. Die ganze Zeit sah er im Geiste vor sich, wie er als Held mit Blasen an den Füßen und von strahlendem Ruhmesglanz umgebenan einem Strand der Ile d’Yeu ankam. Nachdem ihm die Heldentat geglückt war, die Loire hinunterzuschwimmen, schloss er endlich seine Penelope in die Arme. Diese musste nun nach fünfzig Jahren mit einem Seufzer der Bewunderung zugeben, dass ihr Gatte doch ein toller Hecht war. Und dann würde alles wieder so sein wie früher und vielleicht sogar noch besser. Das hatte Marcel sich gedacht, als er in der Badehose in der Wäschewanne saß.
An diesem Abend war es ihm einfach nur peinlich, Paul in das verrückte Projekt mit hineingezogen zu haben. Und diese vertrauten und doch neuen Stimmen, dieser höllische Chor flüsterte ihm zu, dass er tun sollte, was jeder vernünftige Mensch getan hätte, nämlich nach Hause gehen, sein Leben wieder in die Hand nehmen und warten, bis sie zurückkehrte. Marcel, der vollkommen erstarrt auf dem Gästebett lag, als würden ihn unsichtbare Arme daran hindern, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, versuchte darüber nachzudenken, was er machen sollte. Er wunderte sich über sich selbst, als er zwei Sekunden später mit einem Satz aus dem Bett sprang und den ganzen Kram, den er nicht mehr sehen wollte, in den Rucksack stopfte. Da nicht alles hineinpasste, warf er den Rest in einen großen Müllsack und schob ihn unters Bett.
In diesem Moment betrat Paul sein Refugium. »Hm, Paul, ich ...«, begann Marcel, bevor sein Freund auch nur ein Wort sagen konnte. »Jetzt sehe ich alles klarer ... Und ich glaube, es ist vernünftiger, wenn ich die Tour sein lasse.«
Einen kurzen Augenblick lang begann Marcel immer wieder neue Sätze, ohne sie zu beenden. Er fand nicht die richtigen Worte, und schließlich glaubte er, Enttäuschung in Pauls Augen zu lesen.
»Na hör mal! Erst machen wir uns die ganze Arbeit ... Und jetzt willst du die Tour nicht mehr machen?« Paul begann zu lachen. »Also wirklich! Na ja, mein Element ist das Wasser sowieso nicht. Ich wundere mich nicht, dass du das sagst. Im Grunde hatte ich gleich meine Zweifel. Okay, dann lässt du es eben bleiben.«
Marcel warf Paul einen Seitenblick zu.
»Ich kann wirklich gut nachvollziehen, wie du dich fühlst«, fuhr Paul fort. »Es ist ein riskantes Abenteuer, vor allem in unserem Alter. Ich frage mich, ob du daheim nicht besser aufgehoben wärst. Mit der Zeit wirst du dich schon daran gewöhnen, in einem leeren Haus zu wohnen. Wenn du willst, kann ich dir ein bisschen helfen, es neu einzurichten. Du wolltest dir doch auch einen neuen Fernseher kaufen. Was hältst du von einer gemütlichen Fernsehecke? Ich sag dir mal was, und ich weiß, wovon ich spreche. Vor Jugendträumen muss man sich in Acht nehmen wie vor einer ansteckenden Krankheit, denn sie bringen nichts als Scherereien. Ich kann dir übrigens einen Tipp geben, damit du auf andere Gedanken kommst. Weißt du, dass in der Stadthalle in Lamballe jeden Sonntag Tanzveranstaltungen stattfinden? Dort treffen sich die Witwen. Renée war einmal da, ehe sie Probleme mit ihrer Gesundheit bekam. Sie hat sich dort großartig amüsiert. Wir finden bestimmt einen jungen Mann, der unseren Schwimmkörper gebrauchen kann. Glaub mir, wennder liebe Gott gewollt hätte, dass du die Loire hinunterschwimmst, hätte er dich mit Schwimmflossen auf die Welt kommen lassen.«
Zwei Tage später standen die beiden Hunderte von Kilometern von Erquy entfernt an der Ardèche, an der Quelle der Loire am Mont Gerbier de Jonc.
20
In der Villa Jolie
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