Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
harmlos aussahen. An mehreren Stellen schrammteer sich den Körper auf. Es gelang ihm nicht, seinen Kurs zu halten. Marcel streckte, so gut es ging, den Kopf aus dem Wasser und näherte sich in rasendem Tempo dem von dichtem Gebüsch bewachsenen Ufer. Kaum zwanzig Meter weiter blieb er in Bäumen und Gestrüpp hängen. Die Schnur, die ihn mit dem Schwimmkörper verband, wickelte sich zuerst um die Äste und dann um seinen Hals. Der Strömung hilflos ausgeliefert, versuchte Marcel, sich mit dem Taschenmesser aus der misslichen Lage zu befreien, doch er verlor es in dem wirbelnden Wasser. Die Kräfte verließen ihn, und er war nass bis auf die Knochen, als es ihm schließlich wie durch ein Wunder gelang, seinem Gefängnis aus Wasser, Schnüren und Gestrüpp zu entkommen und das Ufer zu erreichen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre ertrunken. Marcel hatte Schmerzen am ganzen Körper und rang nach Atem. Diese Abenteuerreise war von Anfang an eine Schnapsidee gewesen.
Schon am ersten Tag erkannte Marcel seinen ersten Fehler. Der niedrige Wasserpegel im Sommer reichte weder für das Hydrospeed noch das Schwimmen aus. Wenn man die Loire mit dem Kanu hinunterfahren konnte, hieß das noch lange nicht, dass es auch mit einem Schwimmkörper funktionierte. Er musste Stellen finden, wo die Loire tief genug für das Hydrospeed war. Das bedeutete längere Wanderungen und kürzere Strecken im Wasser. Hinter Le Puyen-Velay machte Marcel Rast. Auf einer winzigen, schlammigen Sandbank schlug er das Zelt auf. Die Müdigkeit hinderte ihn daran, sich einen besseren Platz zu suchen. Hinter ihm verlief dieLandstraße. Marcel mobilisierte seine letzten Kräfte und sammelte Äste, um ein Feuer zu machen. Zitternd schlief er ein, und als er am nächsten Morgen in aller Frühe erwachte, fühlte er sich um hundert Jahre gealtert.
Marcel bewegte sich nicht von der feuchten Sandbank weg. Der lange Wanderstock aus Bambus lag neben ihm, neben der Asche vom Vortag. Seine Glieder schmerzten so stark, dass er sich nicht bewegen konnte. Mit trübem Blick schaute Marcel auf die Loire vor ihm, die zum Meer floss und ihm entwischte. Und er saß hier und war zu alt, um sie einzuholen. Ab und zu sah er einen Ast oder ein Blatt oder eine winzige Mücke darin treiben und dachte, dass er das sein könnte auf dem Weg zum Atlantik. Doch mit dem Tempo der Flüsse und der Züge konnte er nicht mithalten. Er würde niemals am 31. Juli in Notre Dame de Monts ankommen. Er musste alles neu planen. Alles. Und er hatte kein Handy mehr. Es war also das Beste, die ganze Sache abzubrechen. Vielleicht würde er mit dem Zug und dem Schiff zur Ile d’Yeu fahren. Er wäre in zwei Tagen da und aller Probleme ledig.
Und es gab noch etwas, was ihm arg zu schaffen machte und ihm den Mut raubte. Ein unangenehmer Gedanke, aber keine klare Vorstellung, mit der er sich hätte auseinandersetzen können. Es war eher ein Hintergedanke, ja, ein böser, feiger Hintergedanke. Wie eine Fliege, die um etwas langsam vor sich hin Moderndes herumschwirrte. Es war etwas, das ihm gar nicht aufgefallen war, bevor Jacqueline ihn verlassen hatte. Marcel versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Ungeduldig schlug er ihm ins Gesicht und drehte schnell den Kopf zur Seite. Von weitem sah er aus wie ein Verrückter, wie er da saß und in den Wind schlug, doch zumindest gelang es ihm, den Gedanken zu verscheuchen. Unglücklicherweise kam er immer wieder.
Ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken, die er zu verdrängen versuchte. Es war ein Angler, der in aller Ruhe einen Fisch aus dem Wasser zog, der am Haken zappelte. Marcel hatte den Angler gar nicht bemerkt. Hinter den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer stand ein alter, klappriger Wohnwagen. Versteckt hinter den Trauerweiden und den hohen Büschen sah man ihn kaum. Neben einer schmutzigen Kühlbox saß ein Labrador und wartete gehorsam.
Marcel schaute sich den Angler genauer an. Er hatte einen Dreitagebart und war um die sechzig. Auf dem Kopf trug er eine Kappe aus leichtem Stoff mit einem Schirm aus Plastik. Der Angler nickte ihm zur Begrüßung zu, und Marcel nickte zurück. So verging der frühe Morgen, und je länger Marcel am Ufer saß, desto klarer wurde ihm, dass seine Abenteuerreise hier wenige Tage vom Mont Gerbier de Jonc entfernt endete. Wie Phileas Fogg, als er einsah, dass die Reise um die Welt nicht in achtzig Tagen zu schaffen war. Marcel wartete auf einen günstigen Augenblick, um aufzubrechen. Vorläufig jedoch konnte er sich
Weitere Kostenlose Bücher