Als der Tag begann
ich), half Sam mir dabei, den harten Job, Ma zu säubern, wieder zu vergessen, indem sie unser gemeinsames Leben auf Achse genau durchplante. An diesem Abend war Lisa, nach einem langen Tag in der
Schule – wo ich seit Tagen nicht mehr gewesen war –, über ihren Hausaufgaben eingeschlafen. Ihr Fleiß erstaunte mich immer wieder, und ich fragte mich, wie sie ihre Kräfte so bündeln konnte, um stundenlang auf ihrem oberen Bett Essays und Arbeitsberichte zu perfektionieren.
Als ich den Hörer abhob, erkannte ich die Stimme meines Vaters zuerst nicht – sie klang zu zart und zu weit weg, wie bei einem Ferngespräch.
»Liz … Liz«, sagte er, »mir geht’s ganz gut. Nicht schlecht, wirklich. Sie behandeln mich hier gut. Und ich esse dreimal am Tag. Ich bekomme sogar ein kleines Bäuchlein, ob du es glaubst oder nicht.« Sein Lachen klang angespannt. Ich weckte Lisa auf und sagte lautlos das Wort Daddy , aber sie winkte ab und schloss wieder die Augen. »Sie lassen sogar immer Jeopardy! für mich laufen«, fuhr er fort, »alle bleiben dann dabei und wetten, wie viele Antworten ich richtig sage.«
Eine Szene kam mir in den Sinn, in der mein Vater gebannt auf dem Sofa sitzt, mein kindlicher Körper hat sich am anderen Ende zusammengerollt, das Nachhemd ist über die Knie gezogen, während ich ihn dabei beobachte, Alex Trebek bei den Antworten zu coachen. Wenn Daddy eine Pause einlegte, um sich an eine entscheidende Information zu erinnern, schloss er immer die Augen und rieb mit der Hand enge Kreise auf seiner Glatze, als wolle er sie so herbeibeschwören. Das Wohnzimmer war erfüllt von dem bläulich flackernden Licht unseres alten Fernsehers, und die richtigen Antworten zu jeder Quizfrage kamen im Dreierpack: erst von Daddy, dann vom Kandidaten und zum Schluss von Mr Trebek. Kurz nach der Sendung ging Daddy in die Küche, um sich zuzudröhnen.
»Ja, darin warst du schon immer gut.«
»Es ist hier ziemlich ordentlich, Lizzy, das solltest du mal sehen.«
Das Problem war, dass ich ihn vor mir sehen konnte, auf seiner schmalen Pritsche in einem Schlafsaal voller alt werdender, gebrochener Männer mit dünnen Bärten. War er wirklich einer von
ihnen? Wie hatte ich die ganzen Jahre in der University Avenue nicht bemerken können, dass mein Vater irgendwie gebrochen war? Er hatte mal so unabhängig gewirkt, und wir waren uns so nah gewesen. Ich musste mich da total geirrt haben. Wenn er nun hinter vergitterten Fenstern lebte, mit einer Ausgangssperre für Erwachsene, wenn er ein ganzes Leben vor mir versteckte und es nicht einmal für nötig gehalten hatte, hier anzurufen, als wir unser Zuhause und unsere Sachen verloren hatten, dann hatte ich Daddy vielleicht nie wirklich gekannt.
Oder bedeutete es vielleicht, wenn er jetzt anrief, um mich um Hilfe zu bitten, dass er sich noch nicht zu weit von uns entfernt hatte, und womöglich war sein Leben nur für eine gewisse Zeit schiefgelaufen. Während er in unserem Gespräch seine Situation beschönigte, verfasste ich im Geist eine Checkliste mit den Dingen, die ich tun könnte, um ihm weiterzuhelfen: arbeiten, um ihn finanziell zu unterstützen, öfter im Heim anrufen, um zu hören, wie es ihm ginge, irgendwie eine Wohnung für ihn finden, ihm Kleider bringen. Diese Ideen umfassten die gesamte Zeitspanne der täglich von mir ungenutzten Stunden.
»Wie läuft’s in der Schule?«
»Gut, richtig gut.«
Wenn er seine Situation beschönigte, konnte ich das auch. Warum sollte ich ihm erzählen, dass ich meistens die Schule schwänzte? Warum sollte ich ihn zur Rede stellen? Wenn er unsere Probleme nicht lösen konnte, was brächte es dann, meine Wut an Daddy auszulassen? Es würde ihn nur noch mehr belasten, und das wollte ich ihm nicht antun. Es fühlte sich gemein an. Also beschloss ich, meinem Vater eine zensierte Version meines Lebens zu liefern und ihn glauben zu lassen, alles sei einfach nur toll.
»Schön, das zu hören, Lizzy. Ich hab mich schon gefragt, wie es dir so geht. Gut zu wissen, gut zu wissen.« Ich tat das Richtige; auf gar keinen Fall konnte ich ihm erzählen, dass es mir Angst machte, wie weit ich ins Hintertreffen geraten war, und ich mir nicht ganz sicher war, ob ich jemals wieder meinen Weg zurückfinden würde.
»Ich sollte mich jetzt tatsächlich wieder an meine Hausaufgaben setzen, Daddy, bevor es zu spät wird. Tut mir leid, aber ich bin froh, dass du angerufen hast.« Und das stimmte wirklich. Sein letzter Anruf war zu lange her, um eine
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