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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Vorstellung davon zu bekommen, was er machte und ob er in Sicherheit war. Wir sagten uns Gute Nacht und legten auf. Sam sah mich besorgt an. »Was hat er gesagt?«
    »Nichts, er wollte sich nur mal melden, glaube ich. Er wohnt in einem Heim. Mehr weiß ich nicht.« Mein Blick fiel auf die über den ganzen Tisch ausgebreitete blaue Landkarte. Sam lag halb darüber; sie hatte mit einem Stift eine gepunktete Linie aufgemalt, die die ideale Route für unsere Reise quer durchs Land darstellte. Am Ausgangspunkt der Linie hatte sie zwei Strichmännchenversionen von uns beiden gezeichnet, mit überdimensionierten Sonnenhüten, unseren Alte-Damen-Sonnenbrillen und mit Handtaschen über dem Arm. Ihre Figur unterschied sich von meiner nur insofern, dass sie einen Irokesenschnitt hatte. Bevor sie noch mehr Fragen nach Daddy stellen konnte, fuhr ich schnell mit meinem Finger die Linie entlang. Ich hielt an der Westküste an, klopfte auf die Karte und fragte: »Hey, Sam, wie lange brauchen wir deiner Meinung nach bis hierher ?« Ich zeigte auf Los Angeles.
    »Nicht lange«, antwortete sie. Dann schnappte sich Sam die Karte und faltete sie so zusammen, dass New York direkt an Kalifornien stieß. »Wir sind schon so gut wie da.«
    Wir lachten beide lauter, als der Witz es verdient hatte.
    Die Highschool war eine Institution, an der Sam und ich zwar eingeschrieben waren, aber nur dort aufkreuzten, um unsere Gratiszugfahrkarten abzuholen. Wir hingen bei Fief oder Bobby herum oder auf Bricks übergroßer Couch, wo ich das Telefonläuten ignorierte, um ungebetenen Anrufern aus dem Weg zu gehen, wenn wir an Werktagen vor der Glotze herumlungerten. Als ich »versehentlich« Bricks Anrufbeantworter kaputt gemacht hatte, lernte ich, mich fünf Minuten lang vollkommen still zu verhalten,
wann immer es an der Tür klingelte, nur für den Fall, dass doch ein Sozialarbeiter vorbeischaute. Niemand verdächtigte mich; ich war ein Profi geworden, ich mied die Schule, ich ging Mr. Doumbia aus dem Weg, ich ging allem aus dem Weg.
    »Du kannst nicht ewig alles auf die lange Bank schieben«, beschimpfte Lisa mich eines Morgens, bevor sie den Reißverschluss ihrer Jacke hochzog und die Tür laut hinter sich zuknallte, auf dem Weg in die Schule. Anhand meines Verhaltens hätte man doch auf die Idee kommen können, ich wolle ihr das Gegenteil beweisen.
    Ich fand, ich hatte der Schule eine berechtigte Chance gegeben, indem ich zwei ganze Wochen durchgehend erschienen war, bevor ich aufgab. Aber Highschool war einfach eine ganz eigene, ganz andere Welt, ein einziges Labyrinth an Verantwortung, von der ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen oder wie ich mich darum kümmern sollte. Wir hatten auch gar nicht vor, das Ganze so katastrophal zu vermurksen; als erster geschwänzter Tag war nur ein einziger Montag eingeplant gewesen. Nur ein Tag.
    Sam und ich nahmen den Zug nach Downtown, nach Greenwich Village in Lower Manhattan, eine Gegend, die mir aus meiner Kindheit, als Daddy mich mitnahm, um den Müll zu durchforsten, vage bekannt vorkam. Durch diese Ausflüge und aus Mas Erzählungen wusste ich, dass das Village der Ort war, wo die interessanten Leute lebten, zu erkennen an ihren vielfarbigen Haaren und den Vintage-Klamotten. Wir sammelten in Bricks Wohnung zwei Dollar fünfundsiebzig Cent in Münzen zusammen, gerade genug, um uns einen Hotdog und eine Limo zu teilen, während wir den Straßenkünstlern im Washington Square Park zusahen. Um uns herum nur coole Leute. Und in ihrer Gesellschaft waren wir das auch.
    Wir wollten wirklich nur diesen einen Montag den Unterricht schwänzen. Aber dann, wenn es schon zwei Tage sein sollten, war es doch besser, sie hintereinanderzulegen. Immerhin war meine Begründung, noch einen zweiten Tag dranzuhängen, viel glaubwürdiger,
wenn der nächste freie Tag gleich auf den ersten folgte. Ich meine, wer ist schon nur einen einzigen Tag lang krank? Und vielleicht war ja ein dritter Tag auch gar nicht so schlimm, wenn ich schon die beiden vorher gefehlt hatte. Der Grund meines Fehlens musste eindeutig mit welchem Leiden auch immer zu tun haben, das mich schon die beiden ersten Tage über zu Hause gehalten hatte. Aber wenn ich dann Montag, Dienstag und Mittwoch gefehlt hatte, lohnte es sich kaum, Donnerstag und Freitag zu retten. Es gab ja immer noch die nächste Woche. Außerdem hatten wir ja auch nicht vor, es noch mal zu machen. Zumindest bis wir an dem folgenden Montag verschliefen und das Ganze von vorn losging.

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