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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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hinter sich zu. Ich hörte, wie er das Licht anmachte, sich bei Ma zu beschweren begann und dabei im ganzen Zimmer hin-und herstampfte.
    Wären da nicht die Briefe von der Jugendfürsorge gewesen, vielleicht hätte ich dann dem, was ich im Begriff war zu tun, das Maß an Überlegung zuteilwerden lassen, das es verdient hatte. Dennoch belüge ich mich selbst, wenn ich behaupte, ich hätte
spontan gehandelt. In Wahrheit hatte ich mich schon die ganze Zeit Zentimeter für Zentimeter Richtung Straße bewegt, vorangetrieben durch Erlebnisse, die meine vorzeitige Eigenständigkeit nur noch beschleunigten, lange bevor Brick uns auf die Schliche kam.
    Später sagten Sam und ich oft, dass es wenigstens nicht in einer der Nächte passiert war, in der wir auch noch Carlos Unterschlupf gewährten und sie zu zweit unter dem L-förmigen Etagenbett lagen und ihre Köpfe zu meiner Linken herausguckten. Wer weiß, wie ein Streit zwischen Carlos und Brick abgelaufen wäre.
    Rückblickend ist es kaum zu glauben, dass unser Versteckspiel überhaupt so lange funktioniert hat; immerhin verbrachte Sam über ein Jahr lang ihre Nächte hier, ich teilte meine Mahlzeiten mit ihr, deckte sie mit meiner Decke zu und erlaubte ihr rund zehn Minuten, nachdem Brick zur Arbeit gegangen war, wieder hervorzukriechen. Vielleicht hätte Sam komplett unter meinem Bett schlafen sollen; dann wäre Brick bei einem verdächtigen Geräusch einfach ins Wohnzimmer gekommen und hätte geglaubt, seine Ohren spielten ihm einen Streich. Und ich nehme an, dass wir leichtsinnig wurden, als Carlos auch seine Nächte hier verbrachte. Wir wollten unser Glück nicht herausfordern, aber er flog aus der Wohnung seines Freundes, und er war für uns zu wertvoll geworden, als dass wir ihn aus den Augen verlieren wollten. Carlos eröffnete uns einen völlig neuen Blick auf das Leben.
    »Ihr müsst nach vorn sehen. Und ich sag euch, sobald ich mein Erbe habe, gehört uns die ganze Stadt.« Er erzählte uns von einem Leben, in dem wir das Sagen hatten und eine Wohnung für uns allein, wo uns niemand anschreien oder herumkommandieren würde. Nach ein paar Wochen hatten wir schon die Farbe des Teppichs festgelegt und unseren zukünftigen Wolfshund Katie getauft. Wir drei planten, zu Macy’s zu gehen und ein kitschiges Familienporträt von uns machen zu lassen, das wir an einer Wand der Wohnung, die wir bald hätten, aufhängen würden. Wir konnten Carlos nicht draußen übernachten lassen; er war unsere Zukunft.
Und die beiden lagen ja auch nicht jede Nacht unter dem Bett. Nein, zwischendurch ließen wir uns etwas anderes einfallen.
    Oft funktionierten wir einfach den obersten Treppenabsatz im Treppenhaus von Bricks Wohnhaus um. Wir mussten nur Decken, Notizblöcke und Erdnussbuttersandwichs mit nach oben bringen, und schon waren wir für die Nacht gerüstet. Auf den dünnen Decken lang ausgestreckt, benutzten wir uns gegenseitig als Kopfkissen. Wir verbrachten viele Nächte dort oben, schliefen ineinanderverwickelt, wie ein Wurf fauler Welpen, atmeten im Gleichklang und nahmen die Wärme des anderen in Anspruch. Wenn Sam nicht eines Nachts ihre Hose heruntergezogen und auf den nächsten Treppenabsatz gepinkelt hätte und wenn sie dabei nicht in der frischen Wachsschicht des Hausmeisters ein pfützengroßes Loch hinterlassen hätte, dann wäre er vielleicht nie darauf gekommen, uns aus dem Hausflur zu vertreiben.
    Doch wir hatten ja auch noch andere Anlaufstellen. Zum Beispiel Bobbys Wohnung, in die wir uns schlichen, sobald Paula ins Bett gegangen war. Wir teilten uns dann zu dritt seinen Futon, sahen die ganze Nacht Filme an und ernährten uns von Chips und Kuchen. Ober bei Fief, wo jeder sich ein Sofakissen schnappte, während sein Frettchen, das nachts freigelassen wurde, die vielen Abfalltüten um uns herum durchstöberte.
    Einige Augenblicke lang, nachdem Brick hinausgestürmt war, verharrten wir im Dunklen, und weder Sam noch ich sagte etwas.
    »Du passt auf«, sagte Sam entschieden und stand neben mir auf. »Ich such meine Sachen zusammen.« Sie packte alles hektisch ein, schniefte dabei und schmiss Zeugs herum.
    Ich lag da, hörte Sam beim Packen und Brick beim Schimpfen im Nachbarzimmer zu und dachte angestrengt nach. Mein ganzes Leben lang hatte ich auf mich selbst aufgepasst. Was würde sich großartig ändern, wenn ich jetzt und hier mit ihr wegginge? Warum nicht selbst das Zepter in die Hand nehmen? Nutzte mir Bricks Wohnung wirklich so viel, oder war sie nur eine

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