Als der Tag begann
Station von vielen, an denen ich in letzter Zeit auf meiner Wanderung
haltgemacht hatte? Vom ersten Tag an hatte es sich nie wie zu Hause angefühlt. Ich dachte an die fett gedruckten Briefe der Jugendfürsorge. Ein verbindliches Treffen hatte auf dem Papier gestanden … um die Option meiner erneuten Unterbringung im Heim zu besprechen. Niemals würde ich noch einmal dorthin zurückgehen. Dieser Gedanke gab mir den letzten Rest. Wenn ich hierblieb, wie lange würde es dauern, bis sie mich sowieso wieder in die Erziehungsanstalt steckten? Dieser eine Gedanke und die Erinnerung an St. Anne’s waren alles, was ich brauchte, um mich zu entscheiden. Lieber würde ich mich allein durchschlagen, als noch mal in das Heim zu gehen, wo die Leute einen behandeln, als sei man kein Mensch. Ich war gut im Überleben; ich würde es schaffen.
Außerdem, was sollte ich denn machen, etwa Sam allein fortgehen lassen? Carlos war ein Überlebenskünstler, genau wie Sam. Wie wir alle. Er konnte uns beibringen, wie man über die Runden kam, so wie er es seit vielen Jahren machte. Und, was am wichtigsten war, nur so waren wir gegenseitig füreinander da. Hier gab es für keinen von uns noch irgendwas zu holen. Die Antwort lautete kurz und bündig: Geh einfach weg .
»Sam, warte«, sagte ich und lief zu ihr hin, als sie gerade dabei war, den Reißverschluss ihrer Tasche zuzuziehen. »Ich gehe auch weg. Warte hier auf mich.« Sie sah mich mit Tränen in den Augen an.
Mein Schrank wirkte wie ein Labyrinth auf mich; ich ging die Fächer mit den Augen durch und hielt jedes Mal wieder ratlos inne. Wenn ich mein Tagebuch zurückließ, könnte ich mehr Klamotten einpacken. Wenn ich meine Klamotten hierließ, könnte ich ein Fotoalbum mitnehmen, eine Haarbürste und ein Paar Sneakers zum Wechseln. Wenn ich nichts mitnahm, wer weiß, ob ich die Sachen jemals wiedersehen würde. Das war der Moment, in dem ich auch weinen musste — über meine Verwirrung, über eine weitere Veränderung, über den Druck, den ich verspürte, als ich hörte, wie Brick Ma anschrie. Wie konnte ich sie hier bei ihm
zurücklassen? Aber wie konnte ich hierbleiben? Es ging nicht, nicht mehr. Ich weinte und packte wie wild Kleidungsstücke, eine Zahnbürste, mein Tagebuch und mehrere Paar Socken in meine Tasche.
»Lass uns abhauen, bevor er wiederkommt. Ich will ihm nicht noch mal begegnen.« Sam deutete nervös mit dem Daumen in Richtung Tür, um mich anzutreiben.
»Okay, nur noch eine Sache«, bat ich sie, »einen Moment noch.« Ich schob einen Stuhl vor meinen Schrank, um an das oberste Regal zu kommen, wo ich Mas NA-Münze und dieses eine Foto von ihr, diese eine Schwarz-Weiß-Aufnahme als obdachloser Teenager, versteckt hatte. Ich öffnete mein Tagebuch und legte das Foto vorsichtig hinein, dann schlug ich das Buch zu.
»Jetzt bin ich so weit«, sagte ich. »Hauen wir ab.«
7
Die Nacht durchmachen
Der Mosholu Parkway, eine durch breite Straßen gleich oberhalb des Bedford Park Boulevards unterteilte Anlage mit einer scheinbar endlosen Aneinanderreihung von Bäumen und Bänken, hat nachts etwas Überirdisches. Der mittlere Streifen, eine ganz offene Grasfläche, ist der ideale Punkt, von dem aus man seinen Zauber in sich aufnehmen kann. Eng aneinandergeschmiegt und mit über uns ausgebreiteten Flanellhemden als Decke, lauschten Sam und ich auf die Bäume bei ihrem Tanz im Wind und die sporadisch vorbeiflitzenden Autos, die uns so nah waren, dass unsere Haare um uns herumflatterten.
»Wohin fahren die wohl so früh am Morgen?«, überlegte Sam laut.
»Ich denke mal, dahin, wo die meisten Leute hinfahren, wenn sie um diese Zeit unterwegs sind … nach Hause«, antwortete ich.
Im Liegen, mit dem intensiven Grasgeruch in der Nase, ließ der überdimensionierte Parkway alles in unserer Sichtweite noch viel unrealistischer wirken. Die schlichten Wohnhäuser, deren Fenster in der Nacht leuchteten, Parkbänke, wie Schwanenhälse gebogene Straßenlampen, der New York Botanical Garden in der Ferne – nichts davon war im Liegen dreidimensional. Ein aufsteigendes Flugzeug am Himmel brachte das Fass zum Überlaufen.
»Sieh dir das an!«, kreischte ich gen Himmel mit dem Ergebnis, dass meine Worte ohne jegliches Echo von der Nacht verschluckt wurden.
»Wow!«, johlte Sam los, um denselben Effekt auszuprobieren. Das Grölen des Flugzeugmotors über uns war plötzlich irrsinnig komisch.
»Da fragt man sich glatt, wer auf dem Boden ist, sie oder wir«, sagte ich
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