Als der Tag begann
vom Regal, benutzte es und war sorgsam darauf bedacht, es wieder genauso hinzustellen, wie ich es vorgefunden hatte. Während ich mein dickes Haar mit einem Gummiband aus meiner Tasche bändigte, stand Sam vor dem Spiegel und schminkte sich die Augen mit Paulas Eyeliner. Als sie fertig war, blieben wir einfach stehen. Unser ungesund blasses Spiegelbild starrte uns an, mit nassen Haaren. Wir sahen beide erschöpft aus.
Sam war unzufrieden mit ihrem Augen-Make-up und warf den schwarzen Pinsel zurück in Paulas Schminktäschchen.
»Ohne den Scheiß siehst du besser aus«, sagte ich.
»Ich habe gerade an meine Familie gedacht«, erwiderte sie.
»Wie meinst du das?«
»Weiß nicht.« Sie riss die Badschränke auf, durchforstete Paulas Krimskrams und brachte eine Schere zum Vorschein. Ich spürte, dass sie durcheinander war; diesen Gesichtsausdruck hatte ich früher schon mal gesehen, immer wenn sie von zu Hause sprach. Ihr Stimmungsumschwung machte mich nervös.
»Was machst du da?«
»Meinst du, kurze Haare würden mir stehen?«, fragte sie mich.
»Sam, bist du sicher, dass du das tun willst?«, wandte ich zögerlich ein, weil ich sie nicht noch mehr reizen wollte.
»Mein Dad mochte meine langen Haare so gern … Tja, ich hoffe, mein Dad hasst das hier.« Sie hielt ihren dicken Pferdeschwanz hinter ihrem Kopf in die Höhe und setzte viermal die Schere an, bevor die ganze Haarpracht auseinanderfiel. »In Kalifornien ist es eh heiß«, sagte sie, als sie die Überreste auch noch abschnitt. »Ich wollte das schon eine ganze Weile lang machen. Heute schien mir genau der richtige Moment dafür zu sein.«
Ich hielt mir die Hände vor den Mund und begann zu lachen. »Du bist verrückt!«, schrie ich los. Sie reichte mir die enormen Haarflechten, die sie sich abgeschnitten hatte.
Ich hielt Sams seidiges Haar in der Hand, das noch feucht war und nach Bobbys Shampoo roch, und mir kam ihre Verwandlung lustig vor, aber gleichzeitig auch traurig.
»Ich hör erst auf, wenn’s gut aussieht«, feixte sie.
»Du bist so oder so schön.«
Als Antwort grummelte sie nur vor sich hin und streckte mir die Zunge hinaus. Ich lachte und schlang meine Arme um ihre schmale Taille.
»Das ist ganz schön cool von dir. So mutig wie du bin ich auf keinen Fall, so viel steht fest.« Ich angelte in Paulas Schrank nach einem Rasierer und half Sam, ihre Tat nach ihren Wünschen und zu ihrer Zufriedenheit zu Ende zu bringen. Die einzigen Haare, die sie jetzt noch auf dem Kopf hatte, waren zwei vordere lockige
Ponysträhnen. Wir brauchten eine Ewigkeit, um die Haare aus dem Badezimmer, dem Waschbecken und von den Fliesen zu entfernen, bis nichts mehr übrig war, was Paula hätte finden können.
Unser Plan war ganz einfach: Halte dich an den Pulk. Wir waren, wie schon gesagt, eine große Familie. Vielleicht die einzige verlässliche Familie, die ich jemals gehabt hatte. Schleich dich hinein, wenn ihre Eltern zur Arbeit gehen, iss dich satt, ruh dich aus, und dann fängst du wieder von vorn an. »Immer dranbleiben, Baby«, sagte Carlos und versprach uns, uns auf der Straße zur Seite zu stehen, bis sein Geld da wäre.
»Genießt die Freiheit, lasst sie für euch arbeiten«, sagte er. Und genau das taten wir.
Endlose Fußmärsche. Meine Füße trugen mich länger und weiter als je zuvor oder danach in meinem Leben. Downtown strotzten die Straßen des Village vor einem schillernden Nachtleben. Freaks, Punks, religiöse Eiferer, Transvestiten und NYU-Studenten bevölkerten dieselben Bürgersteige wie Ma und Daddy in ihrer Jugend. Straßenkids nisteten am St. Marks Place, im Washington Square Park, in der Eighth Street und starrten uns aus Gesichtern an, die unseren eigenen ähnelten. Mit Irokesenschnitt versehene, gepiercte, tätowierte Versionen unserer selbst – wahnsinnig, weggelaufen, zugedröhnt oder einfach nur hungrig. Hunger: die brennende Säure, die in manchen Nächten meinen Bauch quälte, der Besucher aus Kindertagen, der sich nicht darum scherte, ob der Regen prasselte oder die Temperatur sank. Er, der tonangebende Plagegeist, war wieder da und wand sich und stichelte und forderte.
»Ihr müsst euch ins Zeug legen«, sagte Carlos streng, wenn Sam und ich uns Sorgen machten, woher wir unsere nächste Mahlzeit nehmen sollten. »Jupp, da draußen ist genug für alle da, die Frage ist nur, wie man drankommt. Kopf hoch, bis wir wieder Bares haben. « Er blieb beharrlich und hob eindringlich die Augenbrauen. »Ich bin schon lange
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