Als der Tag begann
Menge hervorstach, schwer zusetzte. Egal, wie viel Kummer und Leid zwischen uns stand – ich vermisste meinen Vater einfach. Jetzt war er wieder da, erneut aufgetaucht, eine dünnere, unrasierte Erscheinung, die zerlumpt aussah und nicht in das geschäftige Treiben Manhattans passte, das ihn umgab. Er sah so zerbrechlich aus wie Ma an jenem Tag auf dem Schulhof, als wir mit den Pusteblumen unsere Wünsche in den Himmel geschickt hatten. Ich hatte meine Eltern nur selten außerhalb unserer Wohnung erlebt oder weg von der University Avenue, aber jedes Mal erinnerte mich die Welt um uns herum an ihr eingeschränktes Dasein und daran, wie die Gesellschaft sie zu Vagabunden machte.
Am Abend zuvor hatte ich ihn im Heim angerufen und war von einer Frau zu ihm durchgestellt worden, die seinen Namen in scharfem Ton ausrief. Er tat mir leid, und ich wollte ihn beschützen. Aus der leisen Art, wie er ins Telefon sprach, glaubte ich zu schließen, ihn geweckt zu haben.
»Daddy, ich gehe wieder zur Schule. Ich brauche dich für die Einschreibung. Also, ich meine, ich habe gehofft, du könntest
mich einschreiben.« Ich kam gleich zur Sache, weil die Gesprächsdauer am Heimtelefon begrenzt war. Er fragte zweimal nach. »Nein, kein Ersatzprogramm, Daddy, eine richtige Highschool, genau. Ich brauche dich da jetzt wirklich.« Alles in mir wehrte sich dagegen, ihm gegenüber das Wort brauchen zu benutzen. »Glaubst du, du kannst da hinkommen?« Wenn seine Antwort aus irgendeinem Grund ein »Nein« gewesen wäre, weiß ich nicht, was ich getan hätte. Doch er stimmte zu, sich mit mir zu treffen, ohne ein Zögern, das ich eigentlich erwartet hatte. Allerdings hatte ich ihm noch nichts von der Lüge erzählt. Das hob ich mir für später auf.
Für die Schulverwaltung strickte ich eine wasserdichte Geschichte, die keinerlei Hinweise auf meine Obdachlosigkeit gab. Ich benutzte die Adresse eines Freundes und eine getürkte Telefonnummer als Tarnung. Weil ich wusste, dass die Schule Daddy niemals erreichen konnte, erzählte ich ihnen, er sei Lastwagenfahrer auf Langstrecken, also wochenlang unterwegs. Ich befand die Geschichte als glaubwürdig genug, vorausgesetzt, ich konnte Daddy dazu überreden, mitzuspielen.
Er lächelte, als ich auf ihn zuging, um ihn zu begrüßen – ein breites Lächeln unter seiner Zeitungsjungenkappe. Ich lächelte zurück, und die Freude, ihn wiederzusehen, überlagerte mein anfängliches Zaudern. Wir umarmten uns, und nachdem er eine einzelne Seite aus seinem dicken Buch sorgfältig zwischen seinen Fingern gerieben und sich anschließend die Zeit genommen hatte, sie mit einem Eselsohr zu markieren und das Buch dann in der Tasche zu verstauen, gingen wir los. Es machte mich nervös, ihm von zu ernsten Dingen zu erzählen – wie wir lebten, Lisa, Ma –, also fing ich gleich in allen Einzelheiten von der Prep an, als träfen wir uns jeden Tag und könnten es uns leisten, so zwanglos dahinzuplaudern. Ich instruierte ihn über die winzigen, unerlässlichen Details, die ich angegeben hatte.
»Zweihundertvierundsechzig East 202nd Street.« Ich wiederholte eine Telefonnummer. »Zip-Code 10458. Kannst du das alles behalten, Daddy?«
Sein Gesicht war verzerrt, und ich sah ihm an, dass er sich fragte, wo er da bloß hineingeraten war. » Was soll ich denen sagen?«, rief er empört. »Lizzy, glauben die wirklich, ich arbeite als Lastwagenfahrer ?«
»Ja, aber das ist egal. Sie werden dich wohl kaum über die Branche ausfragen.« Er wirkte eher panisch als wütend, und mir fiel auf, dass seine Hände leicht zitterten.
Vielleicht hatte ich meine eigene Angst vor Treffen wie diesen von ihm geerbt.
»Und wo wohne ich genau?«, fragte er noch mal.
Wir trafen uns mit Vince, Mitdirektor an der Humanities Preparatory Academy und Perrys Partner im Schulbetrieb. Mit seiner strengen Brille schien Vince, der im selben Alter wie Perry war, ein bisschen ernsthafter und disziplinierter zu sein als dieser. Trotzdem lächelte er genauso viel und war letzten Endes genauso liebenswürdig und herzlich. Als wir sein Büro betraten, legte er Daddy einen Stapel Papiere vor, die er auf dem Tisch zwischen ihnen ausbreitete. Die Stellen, an denen Daddy unterschreiben musste, waren bereits mit einem X gekennzeichnet.
»Schön, Sie kennenzulernen, Mr Murray.« Er schüttelte Daddys Hand. Daddy lächelte selbstgefällig, fühlte sich aber ganz offensichtlich nicht wohl in seiner Haut.
»Finnerty«, verbesserte Daddy ihn. »Liz’ Mutter
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