Als der Tag begann
ich erreichen wollte, lauter Bestnoten, hervorragende Leistungen, ordentlich in die Spalten notiert. Wenn ich dieses Zeugnis hervorholte und es mir ansah, dann war es fast schon so, als wäre es wahr geworden. In meinem Herzen gab es meine zukünftigen Bestnoten schon. Jetzt musste ich sie nur noch bekommen.
Eine Erinnerung an Ma half mir bei dieser Entscheidung. Die einzigen Unterlagen, die »offiziell« wie Zeugnisse aussahen, befanden sich unter Mas wenigen Dokumenten, anhand derer die Berechtigung für Sozialhilfe überprüft worden war. Mas Sachbearbeiter waren stets kühl und bürokratisch korrekt mit uns umgesprungen. Und die Wände dieser deprimierenden Büros waren aus irgendeinem Grund alle kotzgrün gestrichen, eine Farbe, die durch das harsche Neonlicht und die Eisengitter vor den großen Fenstern noch hässlicher aussah. Immer warteten so viele Leute vor diesen Büros – Dutzende, Hunderte. Wenn die ungepolsterten Stühle besetzt waren, setzten sich die Leute auf die Fensterbänke oder den Fußboden, irgendwann standen sie oder gingen auf und ab.
Ma, Lisa und ich warteten auch oft stundenlang, eine unter unzähligen anderen Familien, die alle nervös die wenigen unbedingt notwendigen Unterlagen durchblätterten und auf Vollständigkeit prüften. Wenn wir dann endlich an der Reihe waren, erinnere ich mich am deutlichsten an das bizarre Zusammenspiel zwischen Ma, auf deren Schoß ich saß, und der Sachbearbeiterin. Es war egal, was Ma sagte. Die Sachbearbeiterin konzentrierte sich einzig
und allein auf Mas Unterlagen. Geburtsurkunden, notariell beglaubigte Briefe, Gutachten der Ärzte zur Überprüfung einer Geisteskrankheit, unser Mietvertrag. Mas Worte und ihre Person existierten für diese Frau nicht, die die Macht besaß, uns unser Essen, unsere Miete und unsere Sicherheit zu geben oder wegzunehmen. Der Punkt war der: Entweder wir hatten die richtigen Unterlagen, die man für die Bewilligung brauchte, oder wir hatten sie nicht. Dazwischen gab es nichts. Und selbst wenn uns nur eine Kleinigkeit fehlte, wie zum Beispiel ein zweiter Satz Fotokopien oder eine von Mas ärztlichen Bescheinigungen, konnte dieser eine Fehler unsere gesamten Anstrengungen – das Zusammentragen der Unterlagen, die Anfahrt, das stundenlange Warten – wirkungslos machen. Ein fehlendes oder ungültiges Dokument, und unsere Akte wurde geschlossen, beiseitegelegt. Es hieß: »Der Nächste!«, und wir mussten an einem anderen Tag wiederkommen und von Neuem den Antrag stellen. Und all das nur deshalb, weil unsere Unterlagen nicht korrekt zusammengestellt waren. Schluss. Aus.
Gab es einen Unterschied zu meinen Highschoolzeugnissen? Nein. Ich dachte, wenn ich eventuell eines Tages aufs College gehen wollte, dann würde in einem Büro ein Anzugträger meine Akte öffnen, meine Unterlagen durchsehen, und entweder erfüllte ich dann die Voraussetzungen oder eben nicht. Ja oder Nein, nichts dazwischen. Und wenn nicht, würde meine Akte geschlossen werden, und ich hätte Pech gehabt: »Der Nächste!« Ein paar Dinge im Leben, das hatte ich begriffen, waren nicht verhandelbar. Dokumente wie diese Zeugnisse waren wichtig, sie bedeuteten alles, sie beeinflussten meine Möglichkeiten. Sie waren meine Eintrittskarte. Von nun an wollte ich alles, was ich an der Prep tat, in Bezug zu diesem Zeugnis setzen – es war das Wichtigste in meinem Leben.
Es gab später immer mal wieder Momente, in denen ich nicht aufstehen und zur Schule gehen, sondern auf Fiefs Fußboden weiterschlafen wollte. Bobby und Jamie hingen im Village herum. Irgendeiner
schwänzte immer die Schule, und ich verpasste den ganzen Spaß. Es gab immer wieder Momente, in denen ich nicht den ganzen Tag lang drinnen auf einem Stuhl sitzen wollte, während draußen schönes Wetter war und ich nichts davon mitbekam. Aber dann musste ich nur an mein Zeugnis denken, und ich ging zur Schule, pünktlich, jeden Tag, zum ersten Mal in meinem Leben. Entweder erfüllte ich die Voraussetzungen oder eben nicht – und außerdem bezahlten meine Freunde mir nicht die Miete.
11
Der Besuch(er)
KELLNERIN – MIDTOWN
Bedienung gesucht in Teilzeit
in gut besuchtem Coffee & Sandwich Shop,
»Anpackmentalität« ein Muss,
Überstunden verlangt
BABYSITTER & HAUSHÄLTERIN
Familie in Upper Eastside sucht
weibliche Hilfskraft, vertraut mit Hausarbeit
und geduldig mit Kindern, Flexibilität
vorausgesetzt, Englisch Voraussetzung !
Mit dem Stift in der Hand durchforstete ich im Wartebereich des
Weitere Kostenlose Bücher