Als der Tag begann
– meinen Finger in seinen Kartoffelbrei.
»Das ist voll eklig«, sagte ich. »Kommst du mit ins Deli?«
Mit einem ungläubigen Lächeln im Gesicht blickte er erst zu mir auf, dann hinunter auf meinen Finger in seinem Essen, dann wieder zu mir hoch und antwortete: »Klar.«
Wir teilten uns in einem Park hinter dem West Side Highway ein Sandwich, mit Blick auf die hereinbrechenden Wellen des
Hudson. Ich verschlang noch eine Tüte Chips und beobachtete James dabei, wie er auf seinen Rollerblades auf dem Pier in der frischen Nachmittagsluft träge Kreise zog. Danach aßen wir jeden Mittag zusammen, und bald begannen wir drei, Eva, James und ich, die ganze Freizeit gemeinsam abzuhängen. Manchmal schlief ich bei Eva, manchmal bei James. James lebte mit seiner Mutter in einer Zweizimmerwohnung in Washington Heights, Uptown, in der Nähe der Bronx. Zuerst schlief ich auf dem oberen Bett seines Etagenbetts. Wir redeten bis spät in die Nacht hinein. In seinem Zimmer hingen Poster des Fudschijama, draußen vor dem Fenster stand eine herrliche Eiche. Irgendwann legte ich mich dann während unserer Unterhaltungen neben James. In manchen Nächten schliefen wir während unserer Geschichten ein, wie Brezeln ineinander verschlungen. In manchen Nächten ging es weiter. James war einfühlsam und vorsichtig. Unser Sex war zärtlich, und es passierte einfach, genauso, wie wir einfach Freunde geworden waren.
In diesen Nächten bei James schlief ich besonders gut in dem Wissen, ganz und gar in Sicherheit zu sein.
Ich hatte meine Familie verloren, aber ich baute mir eine neue auf. Mit Eva, Bobby, Sam, Fief, Danny, Josh, James und Jamie hatten sich Menschen in meinem Leben zusammengefunden, für die ich Liebe empfand. Sie waren es, auf die ich mich stützte, um das alles durchzustehen.
Das soll nicht heißen, dass Lisa und Daddy nicht mehr meine Familie waren, aber nach Mas Tod trieben wir voneinander weg. Lisa blieb bei Brick, und Daddy lebte im Wohnheim. Ich glaube, eine Menge leidvoller Dinge blieben zwischen uns unausgesprochen. Ich spürte, dass Lisa mir vorwarf, sie mit Ma im schlimmsten Moment alleingelassen zu haben. Und zwischen Daddy und mir war es seit meiner Unterbringung in St. Anne’s nicht mehr wie vorher. Etwas Grundlegendes war zwischen uns zerbrochen, und ich hatte das Gefühl, dass er sich, je mehr Zeit verstrich, einfach
immer weiter und weiter von mir entfernte. Es war mir, als hätte ich ihn durch meine Unterbringung im Erziehungsheim, eine Folge meines Schuleschwänzens, im Stich gelassen. Ganz egal, wie irrational dieser Gedanke auch war, es fühlte sich so an. Und dann, als er die Wohnung in der University Avenue verloren und mir nichts davon gesagt hatte, tat mir das so weh, weil es der Beweis dafür war, dass wir uns nicht mehr nahestanden. Ich war nicht mehr sein kleiner »Tomboy«, der mit Lastern spielte und ihm half, sich nachts an Lisa vorbei aus dem Haus zu stehlen. Ich war nicht mehr Teil seines Lebens.
Ohne den Zusammenhalt im Alltag drifteten Daddy, Lisa und ich aus den Umlaufbahnen der anderen, und jeder lebte für sich sein eigenes Leben, zwischen denen es kaum Berührungspunkte gab. Als ich mein erstes Jahr an der Highschool beendet hatte, kannten wir uns kaum noch.
Wir versuchten, wieder Zeit miteinander zu verbringen, und quälten uns durch peinliche Momente. An Feiertagen und aufgezwungenen Geburtstagsfesten trafen wir uns im Village in einem Lieblingslokal von Daddy – »wegen der berühmten Nachtische«. Ich arbeitete den zweiten Sommer über bei der NYPIRG und bezahlte den Kuchen aus meinen Ersparnissen. Diese Feiern liefen immer nach dem gleichen Muster ab. Daddy und ich kamen ein bisschen zu früh, Lisa tauchte kurz darauf auf. Daddy und ich würden angeregt plaudern, aber keine echten Einzelheiten aus unseren Leben preisgeben. War Lisa da, würde man uns einen Platz zuweisen. Und das war der furchtbarste Teil des Ganzen, weil es so etwas wie einen Tisch für drei Personen nicht gab. Immer blieb ein Platz frei an unserem Tisch, als wolle er so laut und deutlich Mas Abwesenheit kundtun. Und weil meistens einer von uns Geburtstag hatte, brachte eine Kellnerin einen Kuchen mit brennenden Kerzen, und wir drei, die wir eigentlich überhaupt nichts mehr voneinander wussten, sangen dann ein Lied zu Ehren des anderen.
Lisas Geburtstage waren die schlimmsten, weil ich genau merkte,
wie Daddys Nervositätspegel anstieg. Er war ihr gegenüber immer sehr unsicher, noch mehr als bei mir. Das
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