Als der Tag begann
Dann zupfte sie sich ruckartig die Ballonfetzen vom Kopf.
Wir klatschten beeindruckt. »Also, meint ihr wirklich, einer sei zu groß für ein Kondom?«, fragte sie herausfordernd, wuschelte ihre Frisur zurecht und setzte die Brille mit Gläsern groß wie Untertassen wieder auf. »Der erste Schritt, eure Gesundheit selbst anzupacken, ist zu wissen, dass ihr es wert seid. Ihr seid wichtig, und ihr dürft Dinge verlangen, die euch wichtig sind. Eure Rechte und Bedürfnisse nach Sicherheit und Verständnis sind wichtig. Und ihr könnt den Kurs bei eurem Typen vorgeben. Denkt daran, ihr besitzt etwas, was er haben will. Ihr habt mehr Macht, als euch bewusst ist.«
Von ihrem Schreibtisch aus lächelte Jessie uns allen aufmunternd zu.
Ich sah erst sie an, dann Kate und war plötzlich unglaublich stolz. Ich liebte das Gefühl, wie diese beiden Frauen uns zur Seite nahmen und in eine Art Frauengespräch verwickelten. Ich fühlte mich dadurch als etwas Besonderes, als würden sie ein Geheimnis mit uns teilen.
»Euer Wohlbefinden«, fuhr Kate fort, »steht in direktem Zusammenhang mit eurer Selbstachtung, auf geistiger, körperlicher, seelischer Ebene. Euer Körper ist ein Heiligtum, und ihr müsst euch schützen vor Missbrauch und Missachtung eures Heiligtums. Ihr müsst euer eigener Wächter sein! Ihr dürft bestimmen, was mit euch passiert.«
Ihre Begeisterung wurde zu meiner Begeisterung. Und einen
Funken von dem, was Kate sagte, konnte ich regelrecht spüren … als hätte auch ich etwas Wunderbares an mir. Ich fragte mich, wie ich es zulassen konnte, dass Carlos mich so behandelt hatte; wie ich so nahe an den Punkt geraten war, an dem er mich fast zerstört hätte. Ich hatte ihm nie Paroli geboten, und es war auch nicht mir zu verdanken, dass wir damals bei Ron aus der Badewanne entkommen konnten – sondern Lisa. Ihr müsst euer eigener Wächter sein! Ihr dürft bestimmen, was mit euch passiert .
Den Rest der Stunde gingen wir mit Kate eine Liste durch, auf der lauter Tatsachen standen, die durch die Frage »Wusstet-ihr-dass« eingeleitet wurden.
»Wusstet ihr, dass künstliche Sahne Hefepilze auslösen kann? Genau wie alle anderen stark mit Zucker versetzten Lebensmittel, wenn sie auf eurer Labia majora aufgetragen werden? Wissen hier alle, was die Labia majora ist?«
»Was kann das auslösen?«, fragte eine besorgte Stimme quer durch den Raum. Die Besitzerin der Stimme war ein dickliches weißes Mädchen mit hübschem Gesicht und großen grünen Augen; sie hatte einen glitzernden Ring in der Nase und trug hohe Lederstiefel. Ihr Name war Eva, ich hatte sie bereits in zwei meiner Klassen gesehen. Ihr Modestil war Hip-Hop mit einer Prise Club-Girl. Zu ihrem pinkfarbenen Lippenstift hatte sie die Konturen tief dunkelrot umrandet, und ihr langes braunes Haar war mit blonden Strähnchen durchzogen und zu einem seidig glänzenden Pferdeschwanz zurückgebunden.
»Kriegt man davon immer eine Infektion, stimmt das?«, hakte sie nach. Alle lachten.
»Was gab’s denn bei dir?«, witzelte Jonathan und wurde noch eine Runde abgeklatscht.
Kate lächelte. »Nicht immer, meine Liebe, man sollte nur darauf achten.«
»Oh.« Eva war ganz offensichtlich immer noch besorgt, brachte aber langsam auch ein Lächeln zustande. »Na ja … war nur so ’ne Frage.« Sie hob spielerisch die Hände, als wollte sie sich verteidigen.
»Schließlich steht davon ja nichts auf der Verpackung, und als Mädchen muss man ja Bescheid wissen.« Und dann lachte sie auch richtig los, gemeinsam mit uns allen.
Eva wohnte auf der 28th Street Ecke 8th Avenue, ganz in der Nähe der Prep . Außer einem Besuch in der Wohnung eines Freundes von Daddy war ich noch nie in einem Apartment in Manhattan gewesen. Ich erwartete, dass es dort »reich« zuging, wie Daddy immer erzählt hatte, aber stattdessen lebten Eva und ihr Vater Yurick, ein Holocaust-Überlebender, in einer Chelsea-Version eines sozialen Wohnungsbaus: in einem Häuserblock aus hohen Backsteingebäuden, in denen meist ältere Leute und Familien mit niedrigem Einkommen unterkamen. Yurick war Maler; seine Mutter, Evas Großmutter, hatte ihn als Kleinkind aus dem Warschauer Getto geschmuggelt und so sein Leben gerettet. An allen Wänden ihrer großen, sonnigen Dreizimmerwohnung hingen abstrakte Gemälde zum Thema Holocaust.
»Sie schaffen es, dass ich mich schuldig fühle, weil ich etwas zu essen habe«, meinte Eva halb scherzhaft und deutete über die Mikrowelle hinweg auf ein Gemälde, auf
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