Als der Tag begann
jemandem Bescheid zu sagen, auf dem Weg ins Aqueduct – eine Bar, die sie erst kürzlich entdeckt hatte und in die sie in letzter Zeit immer öfter ging.
Ihre Ausflüge begannen am St. Patrick’s Day in diesem März. Ma und Daddy hatten uns spontan zu der Parade mitgenommen, nachdem sie im Fernsehen angekündigt worden war.
Bei leichtem Regen schauten wir von der 86th Street, gleich hinter dem Park, aus zu, wie die Männer in Schottenröcken gruselige Töne auf ihren Dudelsäcken spielten und die Trommeln so mächtig schlugen, dass ich es in meiner Brust und meinen Beinen spüren konnte. Lisa und ich hatten uns vierblättrige Kleeblätter auf die Wangen gemalt, als Glücksbringer, und Daddy ließ
mich die gesamte Fahrt nach Hause im Zug auf seinem Schoß schlafen.
Ma ging nicht mit uns in die Wohnung zurück. Gerade als wir aus der Fordham Road abbogen, traf sie zufällig einen alten Freund, der auf dem Weg in die Bar war, und sie beschloss, später nachzukommen. Was wäre denn schon St. Patty’s Day ohne einen Drink, bestärkte er sie. Ohne mir die Mühe zu machen, die Farbe von meinem Gesicht abzuwaschen, breitete ich meine Bettdecke auf dem Fensterbrett aus, um nach Mas Rückkehr Ausschau zu halten. Ich wartete stundenlang, döste gegen die Scheibe gelehnt ein, bis sie endlich gegen drei Uhr morgens nach Hause kam, gehüllt in Schnapsgeruch und im Zickzackkurs. Ma schlief dann so wie nach ihren Kokaingelagen, ohne ein einziges Mal während des gesamten nächsten Tages aufzuwachen. Danach wurde die Bar zu einem festen Programmpunkt. Völlig egal, ob wir gerade mitten im Gespräch waren oder uns zum Abendessen niedergelassen hatten: Sie ging jederzeit einfach los.
Stunden später an diesem Abend des 4. Juli, immer noch in meinem gebatikten T-Shirt und den blauen Shorts, saß ich auf dem Sofa und sah mir auf verschiedenen Sendern die Fernsehübertragung der Feierlichkeiten an. Hier und jetzt beschloss ich, dass sich Ma meinetwegen davongestohlen hatte. Weil ich mir angewöhnt hatte, sie immer und immer wieder zu fragen, ob sie wirklich ins Aqueduct musste und wann genau ich sie zurückerwarten durfte. Manchmal konnte ich nicht anders, und dann folgte ich Ma bis zur Tür und hielt ihre Hand so lange wie möglich fest. Ich schaffte es, dass sich unsere Fingerspitzen noch berührten, bevor sie hinausging. Wiederholte Male rief ich: »Bis gleich, Ma, komm bald zurück, okay? Okay?«, bis zum Knallen der Tür im Treppenhaus hinter ihr her. Ich nahm an, dass sie mein Verhalten nicht mehr länger ertragen konnte. Deshalb hatte sie das dringende Bedürfnis gehabt, sich heute Nacht heimlich davonzuschleichen. Wäre ich doch nur weniger schwierig gewesen.
Weitere Stunden vergingen, und die Wiederholungen der Nachrichten
kamen zum Ende. Ich stand auf und trat aus dem Wohnzimmer, um ins Bett zu gehen. Genau in diesem Augenblick kam Ma durch die Tür.
»Rate mal, wer da ist«, flötete sie. Ich hörte zweimal das Zündgeräusch ihres Feuerzeugs und dachte, sie hätte sich eine Zigarette angemacht. Dann vernahm ich ein Sausen wie das eines kleinen Bienenschwarms.
»Ma!«
»Sieh nur, was ich euch mitgebracht habe, Schätzchen. Hol deine Schwester!«
Ma sah stur auf eine Wunderkerze, die sie wie einen Zauberstab in der Hand hielt. Als hellstes Licht im Wohnzimmer versprühte sie glänzende silberne Lichtfäden über Mas magere Finger und ihren nackten Arm. In ihren Augen tanzten Lichtflecken.
»Ta-da!«, sang sie und hob die Wunderkerze höher. Genau in diesem Augenblick bemerkte ich die große Plastiktüte voller Feuerwerkskörper, die an ihrem anderen Arm baumelte.
In dieser Nacht schafften wir es nicht bis nach Downtown ans Wasser, aber wir saßen gemeinsam, umgeben von Leuten aus unserem Haus, auf der vorderen offenen Veranda. Wir zündeten jeden einzelnen Feuerwerkskörper, den Ma mitgebracht hatte. Mit den Nachbarskindern zusammen ließen wir Knallfrösche tanzen und herumsausen. Kracher explodierten, dass uns die Ohren klingelten. Daddy war der Sicherheitsbeauftragte für Lisa und mich. Anhand einer Flasche aus dem Müll, die er vorher mit Zeitungspapier gesäubert hatte, brachte Daddy mir bei, wie man eine Rakete in den Himmel aufsteigen ließ, ohne sich an den Fingern zu verletzen. Ma saß auf der Veranda und unterhielt sich mit Louisa aus der Wohnung 1 A, deren Tochter mit ihren eigenen Böllern neben uns spielte.
»Hier, Lizzy«, sagte Daddy zu mir mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme, »steckst du
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