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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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riesiger Sportplatz und in der Ferne die geschäftige Großstadt Boston. Das hier also hatten Ken und die anderen gemeint, wenn sie so begeistert über »Studentenwohnheime« gesprochen hatten: einen Freiraum, in dem man einfach sein konnte. Bevor ich meine Erkundigungen draußen fortsetzte, hängte ich meine T-Shirts in den Schrank, legte meine Jeans gefaltet in eine der Schubladen, berührte Mas Foto sanft mit den Fingerspitzen und steckte ihre Münze in die Vordertasche meiner Jeans, um sie den ganzen Tag bei mir zu haben. Das hier war seit Jahren der erste Raum, auf den ich Besitzansprüche hatte, selbst wenn es nur für zwei Nächte war. Ich war ein bisschen stolz darauf, ihn mir selbst verdient zu haben. An so einem Ort könnte ich gut leben, dachte ich.
    Boston war wunderschön. Perry führte uns durch baumgesäumte
Straßen mit Reihen- und Sandsteinhäusern in einem Viertel, das Beacon Hill hieß. Durch die großen Fenster der alten Häuser konnte man direkt ins Innere blicken und hatte so freien Blick in die Wohnzimmer der Bewohner: Kristalllüster und alte Bücherschränke, die in die holzgetäfelten Wände integriert waren, antike Möbel, durch ein Kaminfeuer beheizte Räume. Ich konnte nicht genug von diesen Einblicken bekommen. Sie weckten Hoffnung in mir. Diese Häuser mit ihren dunklen Fensterläden waren geradezu hinreißend, ihr Kontrast zu den üppigen grünen Bäumen, die mit weißen Blüten übersät waren und deren Blätter aufs Kopfsteinpflaster rieselten, war berauschend. Diese Wohngegend war wie von einem anderen Stern, ja, wie im Märchen.
    Perry beantwortete geduldig jede einzelne meiner Fragen. »Wie viel kosten diese Häuser? Wie verdienen diese Leute ihren Lebensunterhalt? Und wie ist es am College?«
    Das Herumlaufen während des ganzen Nachmittags hatte uns hungrig gemacht. Wir hatten eine Reservierung in einem China-Restaurant am Harvard Square, einem großen Platz im Zentrum von Cambridge. Aber zuerst, sagte Perry, müssten wir dringend dieses Gruppenfoto machen – vor der John-Harvard-Statue auf dem Campus der Harvard University. Im Fernsehen war mal über Harvard geredet worden, aber gesehen hatte ich die Uni noch nie, noch nicht mal auf einem Foto, und deshalb war ich neugierig.
    Ich weiß nicht, ob ich jemals meine Eindrücke in Worte fassen kann, als ich das Universitätsgelände an jenem Nachmittag betrat, zu einer Zeit, in der alles, was mir gehörte, in eine Tasche passte, und ich schäbige Kleidung trug. Ich war immer noch aufgeregt von der Zugfahrt, die bis jetzt den absoluten Höhepunkt meiner irdischen Erfahrungen darstellte.
    Wie gesagt, es fühlte sich für mich jahrelang, vielleicht sogar mein ganzes Leben lang so an, als gäbe es immer eine Ziegelwand, die mich von den anderen abgrenzte. Immer wenn ich vor offiziellen Gebäuden stand, konnte ich sie mir fast bildlich vorstellen. Auf der einen Seite der Wand war die Gesellschaft, und auf der anderen
Seite war ich, waren wir und die Leute von dort, wo ich herkam. Getrennt voneinander.
    Dort, auf dem Gelände der Harvard University, spürte ich förmlich, wie ich die Wand berührte, mit meinen Händen über ihre rauen Kanten strich –, und diesmal ihre Funktion infrage stellte.
    Studenten, mit Büchertaschen beladen, gingen, Fahrräder neben sich herschiebend, auf Wegen zwischen den grünen Wiesen, mit purpurroten Sweatshirts, auf denen HARVARD stand. Die Statue war belagert von japanischen Touristen, die für Fotos posierten. Unsere Gruppe wartete in unmittelbarer Entfernung, um als nächste ihre Aufnahme zu knipsen. Harvard-Studenten lagen lesend auf der weitläufigen Wiese herum. Die Ziegelsteingebäude sahen aus, als wären sie von denselben Architekten erbaut worden wie die Häuser in Beacon Hill, alte und imposant wirkende Bauten, alt und gleichzeitig unerreichbar, aber auch wunderschön. Der Anblick der Gebäude erfüllte mich mit einer tiefen Sehnsucht nach etwas, das ich nicht benennen konnte. Dieses Gefühl muss sich auf meinem Gesicht gezeigt haben, denn genau hier, genau an diesem Ort beugte Perry sich zu mir und sagte: »Hey, Liz, es wäre ganz schön verwegen, aber es ist nicht unmöglich … Schon mal darüber nachgedacht, dich später mal in Harvard zu bewerben?«
    Ich blieb still stehen und ließ Perrys Worte auf mich wirken. Nein, ganz gewiss hatte ich nie auch nur im Ansatz darüber nachgedacht, mich in Harvard zu bewerben. Aber dort, genau an diesem Ort, an dem meine ausgestreckte Hand bildlich Wand

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